Schrei der Nachtigall
Nachmittag in der Werkstatt und repariert Uhren, ich glaube, auch Ihre. Darf ich Ihnen einen Tee anbieten, ich habe gerade welchen aufgebrüht. Es ist ein ganz besonderer Pfefferminztee und sehr gut für den Magen.«
»Danke, sehr gerne. Aber wenn Ihr Mann in der Werkstatt ist, kann ich ja auch dort mit ihm sprechen.«
»Nein, das ist nicht nötig, Herr Brandt«, sagte Caffarelli, der, wie aus dem Nichts aufgetaucht, mit einem Mal hinter ihm stand. »Meine Frau kann ruhig dabei sein, ich kann mir schon denken, weswegen Sie gekommen sind. Eigentlich habe ich sogar mit Ihrem Besuch gerechnet. Gehen wir nach oben.«
Brandt wunderte sich bei Caffarelli über gar nichts mehr, es schien, als besäße er den sechsten oder siebten Sinn.
Sie begaben sich ins Wohnzimmer, Anna holte drei Tassen und Untertassen aus dem Schrank, stellte sie auf den Tisch, ging in die Küche und kehrte mit der Kanne zurück, um den Tee zu servieren.
»Möchten Sie Zucker?«, fragte sie, nachdem auch sie Platz genommen hatte.
»Ich versuch es erst mal ohne«, antwortete Brandt.
»Aber warten Sie noch, der Tee ist noch sehr heiß«, sagte sie.
Brandt fühlte sich wohl, und gleichzeitig wünschte er sich auf einmal, doch nicht hier zu sein. Es war alles so ruhig und friedlich, eine beinahe vollkommene Harmonie. Alles war Harmonie, wie sich Matteo Caffarelli und seine Frau ansahen, wenn sie sich kurze Blicke zuwarfen, es war eine Atmosphäre, die er so noch bei niemandem erlebt hatte. Bei seinen Eltern vielleicht, aber das zählte nicht. Und nun war er hier und würde womöglich eine Bombe platzen lassen.
»Herr Brandt?«, sagte Caffarelli. »Was kann ich für Sie tun?«
»Entschuldigung, ich war mit meinen Gedanken … Wieso haben Sie mich erwartet? Können Sie hellsehen?«
»Möglicherweise. Aber ich habe in Ihnen von Anfang an einen sehr klugen Mann gesehen. Ich glaube, Sie haben inzwischen eine Menge herausgefunden und möchten mit mir darüber sprechen.«
»Also gut, ich werde mich kurz fassen. Sie haben sich in den vergangenen vier Monaten aufopferungsvoll um Allegra gekümmert. Als ich Sie gefragt habe, warum Sie das tun, antworteten Sie, weil sie eine so gute Sängerin sei und der Chor ohne sie nur halb so viel wert sei. Ist das wirklich alles?«
Caffarelli sah erst zu seiner Frau, dann zu Brandt. Er lächelte still vor sich hin und antwortete: »Ich habe Ihnen auch gesagt, nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin kein Arzt, doch ich mag die Menschen. Aber fragen Sie ruhig weiter.«
»Sie sind ebenfalls ein sehr kluger Mann, Herr Caffarelli. Ich habe mich in den letzten Tagen im Kreis gedreht und nach Antworten auf Fragen gesucht, die ich selbst noch nicht kannte. Erst heute nachmittag hat mich jemand draufgebracht. Es geht mir in erster Linie um den Tod von Herrn Wrotzeck, aber auch um noch weitere Todesfälle, nämlich die von Inge und Johannes Köhler. Und ich habe nach Verbindungen gesucht, nur habe ich leider an den falschen Stellen gesucht …«
»Was hat der Tod von Wrotzeck mit den andern zu tun?«, fragte Anna Caffarelli überrascht.
»Möglicherweise eine ganze Menge. Herr Caffarelli, Sie haben gesagt, Ihre Frau dürfe bei unserem Gespräch dabei sein. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Sie sich um Allegra nicht nur gekümmert haben, weilsie eine so gute Sängerin ist, sondern es gibt einen ganz anderen, viel wichtigeren Grund.« Als Caffarelli keine Anstalten machte, etwas zu sagen, fuhr Brandt fort: »Ich habe Allegra zum ersten Mal am Mittwoch auf einem Familienfoto gesehen. Meine Kollegin hat da zu mir gesagt, sie würde nicht auf dieses Foto passen. Dann habe ich Allegra im Krankenhaus gesehen, und ich habe auch gesehen, wie liebevoll Sie mit ihr umgegangen sind. Und dann habe ich vorhin das Foto noch einmal eingehend betrachtet – ich komme gerade von Frau Wrotzeck –, und ich frage mich, woher sie diese braunen Haare und diese grünen Augen hat. In dieser Beziehung sieht sie ihrer Mutter ähnlich«, er machte eine bedeutungsvolle Pause, »aber, und das ist mir erst vorhin klar geworden, sie sieht auch Ihnen ziemlich ähnlich, zumindest was die Gesichtszüge betrifft. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Allegras leiblicher Vater sind? Frau Wrotzeck hat sich sehr bedeckt gehalten.«
Caffarelli nickte und sagte: »Ja, Allegra ist meine Tochter. Ich wusste, Sie würden es herausfinden. Meine Frau weiß es schon seit langem, und auch Pfarrer Lehnert weiß es, sonst niemand,
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