Schrei der Nachtigall
jungen Jahren schon so hart geworden ist, das lag an meinem Mann. Thomas konnte nur überleben, weil er sich eine dicke Haut zugelegt hat und weil er innerlich härter wurde, als ein junger Mann es jemals werden dürfte.«
Brandt erhob sich, holte das Familienfoto und betrachtete es noch einmal. Wie hatte Eberl doch gleich bemerkt? Allegra passt da nicht rein, hatte sie gesagt. Und er hatte dagegengehalten, dass Wrotzeck nicht reinpasse. Und er musste Eberl zustimmen.
»Das ist ein schönes Foto. Wann wurde es aufgenommen?«
»Weiß ich nicht mehr. Vor vier oder fünf Jahren, ich kann mich nicht genau erinnern. Warum?«
»Es zeigt eine sehr idyllische Familie, fast eine heile Welt. Zu welchem Anlass wurde es gemacht?«
»Das war, als Kurt mal wieder einen Preis für einen seiner Bullen bekommen hat. Da kamen einen Tag später ein Reporter und ein Fotograf. Die haben einen Bericht über meinen ach so erfolgreichen Mann gemacht, und der Fotograf hat angeboten, ein Familienfoto von uns zu machen. Erst wollte Kurt nicht, aber schließlich hat er zugestimmt. Seitdem steht es auf dem Schrank.«
Brandt sah Liane Wrotzeck lange an, die seinen Blick ein paarmal kurz erwiderte. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es in dem Zimmer.
»Ich möchte Sie noch einmal fragen, warum Herr Caffarelli sich so sehr um Allegra gekümmert hat«, sagte Brandt, ohne aufzuschauen. »Nur weil sie in seinem Chor fehlt?«
»Vermutlich«, antwortete sie kaum hörbar.
»Frau Wrotzeck, das kaufe ich Ihnen nicht ab. Ich meine, ich kann auch zu Herrn Caffarelli gehen und ihn noch einmal fragen, warum er das alles auf sich genommen hat. Aus reiner Nächstenliebe?«, fragte er mit hochgezogenen Brauen und nicht ohne eine Spur von Ironie.
»Sie haben ihn doch kennengelernt, für ihn ist Nächstenliebe kein Fremdwort. Und wenn Sie sich umhören, werden Sie niemanden finden, der Schlechtes über ihn zu berichten hat.«
»Allegra ist bildhübsch, wenn ich das so sagen darf. Wann wurde sie geboren?«
»Am 1. November ’85. Was bezwecken Sie eigentlich mit diesen Fragen?«
»Ich versuche die Wahrheit herauszufinden, und ich hoffte, Sie wären mir dabei ein wenig behilflich.«
»Und was bitte schön hat Allegra mit dieser Wahrheit zu tun?«
»Erklären Sie’s mir.«
»Es tut mir leid, ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen. Ich weiß nicht, wo mein Mann an dem Abend war, als Johannes und Allegra verunglückt sind. Es tut mir wirklich leid.«
»Gut, dann muss ich eben noch etwas warten. Ich würde gerne noch einmal einen Blick in das Zimmer Ihres Mannes werfen und ein paar Dinge mitnehmen.«
»Dürfen Sie das einfach so?«, fragte Liane Wrotzeck.
»Ich kann natürlich auch mit einem Durchsuchungsbeschluss wiederkommen, wenn Ihnen das lieber ist. Aber dann kommen auch noch andere Beamte und stellen hier womöglich alles auf den Kopf. Möchten Sie das?«
»Gehen Sie ruhig hoch, Sie werden sowieso nichts finden«, sagte sie müde, als hätte sie das Frage-und-Antwort-Spiel sehr erschöpft. »Wollen Sie auch noch mit Thomas sprechen?«
»Nein, nicht nötig. Ich bin auch gleich wieder weg.«
Brandt holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Tür zu Wrotzecks Zimmer auf. Alles war noch so, wie er es am Vortag verlassen hatte, auch der Schlüssel zum Sekretär befand sich noch in dem alten Bierkrug. Er nahm ein Bündel privater Schriftstücke, klemmte dieseunter den Arm und ging wieder nach unten. Liane Wrotzeck saß noch immer im Wohnzimmer.
»Auf Wiedersehen. Und sollten Sie mir doch noch etwas mitzuteilen haben, Sie wissen, wie Sie mich erreichen können.«
Sie erwiderte nichts darauf, sondern schaute Brandt nur stumm an. Er hatte überlegt, sie mit seiner Vermutung direkt zu konfrontieren, aber er wollte es von ihr selbst hören, genug Steilvorlagen hatte er ihr gegeben. Er schaute auf die Uhr. Es war sicher noch nicht zu spät, um Caffarelli einen Besuch abzustatten.
Samstag, 20.15 Uhr
Brandt klingelte bei Caffarelli, seine Frau steckte den Kopf aus dem Fenster, kam gleich darauf die Treppe herunter und öffnete die Tür.
»N’abend. Ich hoffe, ich störe nicht, aber ich würde gerne kurz mit Ihrem Mann sprechen. Ist er da?«
»Natürlich, kommen Sie rein.« Sie machte die Haustür wieder zu und rief mit dieser angenehm warmen Stimme: »Matteo, Kommissar Brandt ist hier, er möchte dich sprechen. Kommst du?« Und zu Brandt: »Er ist seit dem
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