Schrei der Nachtigall
Halbschwester hat?«
»Vielleicht heute noch, vielleicht auch erst morgen. Aber nicht später, ich möchte nicht, dass er es von andern erfährt. Sie haben ja noch gar nicht von Ihrem Tee probiert. Er wird sonst kalt«, wechselte er schnell das Thema.
Brandt nahm die Tasse und trank einen Schluck, er schmeckte köstlich. Er blieb noch zehn Minuten und verabschiedete sich dann. Caffarelli und seine Frau begleiteten ihn hinunter, und noch bevor sie die Tür öffnen konnten, ging sie auf, und Luca kam herein.
»Hallo«, murmelte er und drängte sich vorbei, um nach oben zu gehen.
Brandt sah ihm nach und dann Caffarelli vielsagend an. »Es ist wichtig«, sagte er.
»Alles hat seine Zeit, Herr Brandt. Eine Zeit zum Lachen und eine Zeit zum Weinen. Eine Zeit zu leben und eine Zeit zu sterben. Eine Zeit zu sprechen und eine Zeit zu schweigen. Kommen Sie gut nach Hause. Und vielleicht sehen wir uns ja morgen in der Klinik.«
Samstag, 21.35 Uhr
Hinter den Fenstern von Dr. Müller brannte noch Licht, Brandt klingelte, Gudrun Müllers Stimme kam aus dem winzigen Lautsprecher.
»Brandt. Ich würde gerne noch einmal mit Ihrem Mann sprechen. Ist er da?«
»Moment.«
Er hörte das Summen an der Tür, drückte sie auf und ging nach oben. Gudrun Müllers Gesicht war grau und eingefallen, was selbst im diffusen Licht der Flurbeleuchtung zu erkennen war, und sie hatte tiefe Ringe unter den Augen. Die vergangenen Tage hatten sie psychisch und physisch stark mitgenommen. Sie machte eine Handbewegung, um Brandt hereinzulassen.
Müller saß in einem Sessel, der Fernseher lief. Neben sich hatte er eine Flasche Bier stehen, in der Hand hielt er eine Zigarette. Aus einem der Kinderzimmer kam lautes Geschrei, zwei der Kinder stritten sich. Gudrun Müller ging hin und sagte ihnen mit gedämpfter und doch keinen Widerspruch duldender Stimme, dass sie sofort leise seinsollten, sonst schicke sie sie unverzüglich ins Bett. Danach zog sie sich in ein anderes Zimmer zurück, um die beiden Männer allein zu lassen.
»N’abend«, sagte Brandt und nahm einfach Platz. Müller schaute ihn kurz an und dann wieder zum Fernseher, wo ein Actionfilm lief.
»Könnten Sie bitte für einen Moment den Ton wegdrücken oder am besten ganz ausmachen?«
Müller folgte der Aufforderung und sah Brandt an. »Das ist mein erstes Bier heute«, sagte er, und es klang wie eine Rechtfertigung.
»Ich bin nicht gekommen, um Sie zu kontrollieren, sondern weil ich noch zwei ganz wichtige Fragen habe. Sie betreffen Wrotzeck.«
»Das ist ja was ganz Neues«, entgegnete Müller mit tonloser Stimme.
»Lassen wir doch diesen Sarkasmus. Sagen Sie, an welchen Tagen sind Sie immer mit Wrotzeck in die Clubs gefahren?«
»Meistens mittwochs und freitags. Warum?«
»Freitags also. Können Sie sich erinnern, ob Wrotzeck auch an jenem Freitag im Club war, als Johannes Köhler und Allegra verunglückt sind?«
Müller zog die Stirn in Falten, rieb sich die Nase und überlegte. »Keine Ahnung.«
»Dr. Müller, ich bitte Sie. Sie werden sich doch erinnern können, ob Sie allein dort waren oder zu zweit, schließlich haben Sie jedes Mal die Rechnung beglichen«, sagte Brandt scharf, woraufhin Müller erschrocken zusammenzuckte. »Also, waren Sie an besagtem Abend mit Wrotzeckzusammen oder nicht? Zu Ihrer Erinnerung, es war der 16. April.«
»Nein. Er hat mich angerufen und gesagt, er habe noch etwas Wichtiges zu erledigen. Da war ich aber schon in Hanau.«
»Hat er Ihnen auch gesagt, was er zu erledigen hatte?«
»Er hat nur gemeint, er würde sich mit einem Kunden in Frankfurt treffen. Und dann hat er noch gesagt, diesmal würde ich ja vielleicht endlich mal einen hoch …«
»Das interessiert mich weniger. Wissen Sie, wo in Frankfurt er sich mit diesem Kunden treffen wollte?«
»Nein.«
»Okay. Kommen wir zum nächsten Punkt. Sie wurden seit etwa vier Jahren von ihm erpresst, mit ihm zusammen ins Bordell zu gehen und alle seine Rechnungen dort zu begleichen. Wie oft kam es vor, dass Wrotzeck nicht zu den vereinbarten Treffen mit Ihnen erschien? Das heißt, wie oft hat er kurzfristig abgesagt?«
»Nicht oft, vielleicht drei- oder viermal.«
»Auch am 23. März 2001? Das war ebenfalls ein Freitag. Denken Sie gut nach, es könnte eminent wichtig sein.«
»Warum?«
»Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie mit niemandem darüber reden?«
»Mit wem sollte ich darüber reden? Außerdem habe ich im Augenblick ganz andere Probleme.«
»Gut, dann sagen Sie mir, ob er
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