Schrei der Nachtigall
an jenem Freitagabend, an dem Inge Köhler starb, mit Ihnen zusammen war. Sie können sich doch sicherlich noch an dieses Datum erinnern, oder?«
»Ach, das meinen Sie. Wir waren an dem Abend zusammen in Offenbach, aber er hat schon so gegen zehn gesagt, er müsse dringend weg.«
»Hat er auch gesagt, wohin?«
Müller zögerte mit der Antwort, als würde er allmählich begreifen, was Brandt mit seinen Fragen bezweckte. »Soweit ich mich erinnern kann, wollte er sich mit einer Frau treffen. Sie denken doch nicht etwa, dass er …«
»Das waren exakt die Antworten, die ich hören wollte. Sollte es zum Prozess kommen, werden Sie als Zeuge vorgeladen, und ich möchte Sie bitten, dort noch einmal alles genau so zu erzählen, wie Sie es mir eben erzählt haben.«
»Warten Sie«, sagte Müller, der mit einem Mal aus seiner Lethargie erwacht zu sein schien, zu Brandt, der bereits aufgestanden war, »heißt das etwa, dass Wrotzeck etwas mit diesen Unfällen zu tun hatte?«
»Sagen wir es so, es deutet vieles darauf hin. Hat er mit Ihnen jemals über die Unfälle gesprochen?«
»Schon.«
»Und wie? War er zurückhaltend in seinen Äußerungen, oder hat er auffällig viel dazu zu sagen gehabt?«
Müller lachte trocken auf. »Wrotzeck hat nie viel gesprochen, immer nur das Nötigste. Außer, wenn wir unterwegs waren und er getrunken hatte. Da konnte er mit einem Mal quatschen wie ein Wasserfall.«
»Hm. Haben Sie ihn auf den Unfall von Allegra angesprochen?«
»Hab ich, aber er hat ziemlich unwirsch reagiert. Also hab ich meine Klappe gehalten. Dem ist die ganze Sachesowieso ziemlich am Arsch vorbeigegangen, den Eindruck hatte ich zumindest.«
»Und von dem Streit zwischen Wrotzeck und Köhler wussten Sie auch?«
»Das hat doch jeder gewusst, aber keiner hat sich getraut, Wrotzeck mal so richtig die Meinung zu sagen. Selbst Köhler war viel zu zurückhaltend. Was Wrotzeck gebraucht hätte, wäre mal eine richtige Abreibung gewesen, der hätte mal so richtig eins in die Fresse kriegen müssen. Aber dazu hätte man schon fünf oder sechs starke Kerle gebraucht. Nur, die findet man hier nicht so leicht. Und in diesem Dorf kümmert sich ohnehin jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten. Getratscht wird auf Teufel komm raus, aber ansonsten macht man auf heile Welt …« Er winkte ab und meinte: »Schluss damit, ich bin ja keinen Deut besser. Ich habe einen Menschen getötet und werde mein Leben lang dafür bezahlen. Tja, so ist das. Das beschauliche Bruchköbel, ein einziger tiefer Sumpf. Wer hätte das gedacht?!« Müller lachte wieder auf, diesmal hart und bitter. »Sonst noch Fragen?«
»Nein. Ich möchte Sie lediglich noch einmal bitten, dieses Gespräch für sich zu behalten, damit ich meine Ermittlungen in Ruhe abschließen kann.«
»Meine Lippen sind versiegelt, das waren sie leider schon immer.«
Brandt verabschiedete sich und rief um kurz vor halb elf von seinem Wagen aus bei Elvira Klein an. Sie war wieder außerordentlich freundlich am Telefon, was Brandt noch immer sehr verwirrte. Was haben Andrea und die Kleinbloß gestern gemacht, dass die auf einmal so … anders … ist?
»Wrotzeck und die Unfälle sind untrennbar miteinander verbunden, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Er war an einem Abend laut Aussage dieses Dr. Müller nicht mit ihm zusammen, am andern nur bis zweiundzwanzig Uhr, obwohl freitags immer ihr Ausgehtag war. Jetzt muss ich nur noch rausfinden, wie er’s gemacht hat. Jedenfalls hat er sogar unsere Kriminaltechniker ausgetrickst.«
»Und wie wollen Sie das beweisen?«
»Indem ich denjenigen finde, der Wrotzeck eins über den Schädel gezogen hat. Und da kommen nicht mehr allzu viele in Frage. Weder Köhler noch Müller, dieser Caffarelli schon gar nicht …«
»Wenn ich Sie unterbrechen darf, warum dieser Caffarelli nicht?«
»Weil der keiner Fliege was zuleide tun könnte. Wenn Sie möchten, kann ich Sie gerne mit ihm bekannt machen, eine Begegnung mit ihm würde Ihr Leben mit Sicherheit bereichern.«
»Ihres vielleicht, aber ich habe keinen Bedarf«, erwiderte sie schnippisch, was Brandts Einschätzung über die wundersame Wandlung der Elvira Klein sofort wieder relativierte. »Bringen Sie mir Ergebnisse, Sie sind doch schon fast am Ziel. Sie sagen ja selbst, dass nicht mehr allzu viele in Frage kommen, die Wrotzeck umgebracht haben können.«
»Sie bekommen Ihre Ergebnisse. Und jetzt schlafen Sie gut.«
»Danke, aber ich hatte noch nicht vor, ins Bett zu
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