Schrei der Nachtigall
einen sehr beherrschten und souveränen Eindruck zu machen, dachte Brandt, aber sie hat Angst. Nur, wovor hat sie Angst?
»Wenn Sie es nicht wissen, dann muss ich eben alle Clubs und Bars abklappern, bis ich die gewünschte Antwort bekomme.« Er machte eine Pause und fuhr fort: »Wussten Sie eigentlich, dass Dr. Müller von Ihrem Mann erpresst wurde?«
Liane Wrotzeck zog die Stirn in Falten und schüttelteden Kopf. »Was? Nein, davon höre ich heute zum ersten Mal. Warum hat mein Mann ihn erpresst?«
»Darüber darf ich leider nicht sprechen, aber Ihr Mann war alles andere als ein Engel. Er hat Sie geschlagen, gedemütigt und vernachlässigt. Eigentlich alles Gründe, um sich scheiden zu lassen. Das haben Sie aber nicht getan. Und er zog es vor, sich seine Befriedigung bei Huren zu suchen. Warum haben Sie sich nicht von ihm getrennt? Das ist doch heutzutage nicht mehr so schwer.«
»Hauptsächlich wegen der Kinder. Und außerdem, wo hätte ich denn hin sollen, ich habe doch keine Verwandten und kenne auch sonst kaum jemanden. Ich habe zwar eine Freundin in Frankfurt, aber wir sehen uns nur sehr sporadisch. Und mein Mann hat mich finanziell sehr kurz gehalten, sehr, sehr kurz. Ich hatte keine Kontovollmacht, er hat mir jeden Cent Haushaltsgeld zugeteilt, und wenn ich damit nicht zurechtkam … Aber das ist Schnee von gestern.«
»Hat er die Kinder auch so kurz gehalten?«
»Er war geizig bis zum Gehtnichtmehr. Die Kinder haben das ebenfalls zu spüren bekommen.«
»Gab es auch kein Taschengeld?«, fragte er zweifelnd.
»Das schon, aber längst nicht so viel, wie die andern Kinder und Jugendlichen erhielten. Manchmal konnte ich vom Haushaltsgeld etwas abzwacken und ihnen zustecken, aber das war nicht oft möglich. Sagen Sie mal einem Sechzehnjährigen, dass er mit zwanzig Mark im Monat auskommen muss, während alle andern das Fünf-, manchmal auch das Zehnfache hatten. So war mein Mann, er selbst hat das Geld mit vollen Händen zum Fenster rausgeschmissen, wo wir blieben, war ihm egal.«
»Und wie war es an Weihnachten und den Geburtstagen?«
Liane Wrotzeck lachte bitter auf und sagte: »In den ersten Jahren haben wir Weihnachten immer zusammen verbracht, aber es war nie schön. Die Atmosphäre war schlecht. Später fiel Weihnachten einfach aus, da haben Allegra, Thomas und ich es uns so gemütlich gemacht, wie wir eben konnten, aber Geschenke gab es keine mehr. Und die Geburtstage hat er auch in schöner Regelmäßigkeit vergessen. Außer den von Thomas. Na ja, bis er ihm mitgeteilt hat, dass er den Hof nicht übernehmen würde.«
»Wussten andere darüber Bescheid?«
»Nein. Ich habe den Kindern gesagt, dass sie nicht über unsere Familie sprechen sollen. Ich hatte Angst, dass Kurt, wenn er das erfährt, alles kurz und klein schlagen würde. Die einzigen, die darunter gelitten hätten, wären doch die Kinder gewesen.«
»Na ja, Sie doch wohl auch. Aber jetzt geht es Ihnen finanziell gut?«
Sie nickte. »Ich kann endlich durchatmen und mir auch mal etwas leisten. Als Sie mich nach der Einrichtung gefragt haben, ob ich die ausgesucht habe … Das war gelogen. Er muss wohl in einem Anfall von Großzügigkeit in ein Möbelgeschäft gefahren sein und hat das alles liefern lassen. Das liegt aber auch schon einige Jahre zurück. Es ist nicht schlecht, aber es gefällt mir nicht. Nichts hier gefällt mir. Ich werde den Hof verkaufen, das habe ich letzte Nacht beschlossen. Es hängen einfach zu viele schlechte Erinnerungen daran. Ich habe mehr als mein halbes Lebenhier verbracht, und auch das Leben davor war nicht gerade berauschend.« Sie sah Brandt kurz an und senkte den Blick gleich darauf wieder.
»Hat Ihr Mann häufig zugeschlagen?«
»Es geht«, antwortete sie ausweichend. »Das Schlimmste war eigentlich, wenn er manchmal tage- oder wochenlang kein Wort mit uns gewechselt hat oder wenn er rumgebrüllt hat, dass man es sogar bis auf die Straße hören konnte. Aber was bringt es, sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen? Für mich ist das Kapitel Ehe abgeschlossen, und glauben Sie mir, ich werde ganz bestimmt nie wieder heiraten. Und was meinen Kindern bis vor kurzem versagt wurde, das werde ich ihnen geben.«
»Sie meinen damit Geld?«
»Auch, aber sie sollen endlich merken, dass es auch ein friedliches Miteinander gibt. Allegra war sowieso schon immer sehr friedlich. Sie hat sich nur sehr selten beklagt, obwohl sie jeden Grund dazu gehabt hätte, aber sie ist eben anders. Und dass Thomas in so
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