Schrei der Nachtigall
und neuen Häusern. Hinter einigen von ihnen brannte noch Licht, bei den meisten waren jedoch die Rollläden heruntergelassen. Der Regen des Tages hatte aufgehört, an einigen Stellen war der Himmel aufgerissen, und ein paar Sterne funkelten in der klaren Nacht. Matteo und Anna sprachen nur wenig, sie brauchten ohnehin kaum noch Worte, um sich zu verstehen. Es war fast Mitternacht, als sie wieder nach Hause kamen. In Lucas Zimmer war alles dunkel, aber der Krach aus den Kopfhörern drang bis in den Flur.
Samstag, 23.00 Uhr
Brandt saß eine ganze Weile schweigend schräg gegenüber von Andrea, die ihren Arm um Sarah gelegt hatte, während diese sich an ihrer Schulter ausheulte. Nach zehn Minuten hielt er es nicht mehr aus, holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und sagte: »Kann mir jetzt vielleicht mal einer verraten, was hier los ist? Hallo, Sarah, ich bin’s, dein Vater.«
»Willst du’s ihm erzählen, oder soll ich das übernehmen?«, fragte Andrea.
»Du«, schluchzte Sarah.
»Sie war auf einer Party von so ’nem Jungen, der sturmfreie Bude hat. Ich hab sie da rausgeholt.«
Brandt setzte sich wieder und sagte: »Ist das alles? Komm, was ist da wirklich abgelaufen? Und keine Angst, ich reiß dir den Kopf schon nicht ab. Aber ich will wissen, was vorgefallen ist. Und eigentlich würde ich es gerne von dir hören.«
Sarah wischte sich die Tränen ab und putzte sich die Nase. »Andrea, bitte«, sagte sie mit flehendem Blick.
Andrea zuckte mit den Schultern und machte ein hilfloses Gesicht.
»Mein Gott, wollen wir bis morgen früh hier sitzen? Du warst also bei einem Jungen, der eine Party gegeben hat. Mir hast du gestern abend gesagt, du würdest das Wochenende bei einer gewissen Celeste verbringen. Von einer Party war nicht die Rede.«
Andrea schüttelte den Kopf und sagte: »Also gut, dann übernehm ich das. Sarah hat mich vorhin angerufen und mich dringend gebeten, sie abzuholen. Also bin ich sofort los, hab sie aus dem Haus geholt und wäre da beinahe selber angemacht worden. Dort wird getrunken und auch Gras geraucht, ob andere Drogen im Spiel sind, keine Ahnung. Jedenfalls hat einer der Typen dort versucht, Sarah ins Bett zu kriegen, und er scheint dabei nicht gerade zimperlich vorgegangen zu sein. Sie hat Angst bekommen und mich angerufen. Das ist die Kurzfassung.«
»Bitte, ich hör wohl nicht richtig. Bei wem findet das statt und vor allem, wo?«, fragte Brandt sichtlich erregt.
»Das ist doch unwichtig …«
»Nein, ist es nicht!«, widersprach Brandt entschieden. »Meine Tochter wird fast vergewaltigt, und du findest es unwichtig?! Jetzt mal raus mit der Sprache. Ich werde sofort hinfahren und dem ein Ende bereiten. Wer weiß, wie viele Mädchen noch unter Drogen gesetzt und zu Dingen gezwungen werden, die sie normalerweise nicht machen würden. Hast du irgendwas genommen?«, fragte er Sarah.
»Ich hab nur was getrunken«, antwortete Sarah zögernd. »Aber ich hab doch gleich gewusst, dass du das nicht verstehen würdest. Du bist wie alle Väter!«, schrie sie und sprang auf, um in ihr Zimmer zu rennen, doch Brandt hielt sie am Arm fest.
»Nicht so schnell. Was hast du getrunken und wie viel? Und hast du Drogen genommen? Ich muss das wissen, wenn ich dorthin fahre und den Laden auseinandernehme. Also, ich erwarte eine klare Antwort.«
»Lass mich los, du tust mir weh.«
»Nein, ich lass dich nicht los, bevor du mir nicht gesagt hast, was du auf dieser Party wolltest und was du dort gemacht hast. Setz dich wieder hin, und wir reden in Ruhe. Dass ich nicht gerade erfreut bin, kannst du dir denken, aber ich mach mir eben Sorgen um dich.«
»Du bist doch nie zu Hause, du weißt doch gar nicht, was los ist.«
»Nein, nein, mein liebes Fräulein, nicht so. Ich bin sehr wohl die meiste Zeit zu Hause, zumindest abends. Dass ich wie jetzt ausnahmsweise Bereitschaft habe, dafür kann ich nichts. Und jetzt beantworte bitte meine Fragen. Was hast du alles zu dir genommen?«
»Ist das jetzt ein Verhör?«, fragte Sarah mit heruntergezogenen Mundwinkeln und fing wieder an zu weinen.
»Nein, natürlich nicht. Entschuldige. Okay, und wenn du jetzt nicht darüber sprechen möchtest, kann ich das verstehen«, sagte Brandt und dachte: Das ist das erste Mal, dass ich mit so was konfrontiert werde. Und ich war immer der Meinung, meinen Töchtern könnte das nicht passieren. Aber warum vertraut sie mir weniger als Andrea? Hab ich ihr jemals einen Grund dafür gegeben?
»Versprichst du mir,
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