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Schrei der Nachtigall

Schrei der Nachtigall

Titel: Schrei der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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um die Mittagszeit …

Donnerstag, 12.10 Uhr
    Köhler war nicht auf dem Hof. Seine Mutter sagte, er habe einen Arzttermin und mehrere Besorgungen zu machen und sei erst gegen Abend wieder zurück. Also fuhr Brandt nach Offenbach und ließ die Unterredung mit Lehnert noch einmal Revue passieren. Was hatte er gemeint, als er sagte: »Haben Sie nicht richtig zugehört?«
    Natürlich hab ich richtig zugehört, oder hab ich vielleicht doch was überhört?, dachte er. Was hat Lehnert alles gesagt? Dass Wrotzeck eine Prüfung für andere gewesen sei. Abgehakt, ist mir bekannt. Und dass Wrotzeck gebeichtet habe. Aber was um alles in der Welt hat Wrotzeck dem Priester anvertraut, wovon aller Wahrscheinlichkeit nach nur Wrotzeck und der Priester wussten? Und warum geht einer wie Wrotzeck überhaupt zur Beichte? Was ist mir entgangen? Peter, du drehst dich im Kreis, obwohl die Lösung wahrscheinlich direkt vor dir liegt. Was also hast du überhört? Lehnert hat gesagt, dass er es vielleicht nicht anders verdient habe. Was meint er damit? Und er hat nicht nur einmal, sondern des öfteren mit Wrotzeck gesprochen. Und was meint Lehnert, wenn er sagt, dass Wrotzeck ein gläubiger Mensch gewesen sei? Wrotzeck und gläubig, das passt doch zusammen wie Offenbach und Frankfurt! Andererseits, er hat das »gläubig« so seltsam betont.
    Mit einem Mal verlangsamte er das Tempo, fuhr an den Straßenrand, stellte den Motor ab und legte den Kopf an die Nackenstütze. Absolution! Lehnert hat Wrotzeckkeine Absolution erteilt. Ich habe ihn gefragt, ob er die Absolution erteilt hat, und er hat nur geantwortet: »Kein Kommentar.« Also nicht. Bei welchen Sünden wird die Absolution erteilt und bei welchen nicht? Das kann ich doch Lehnert mal fragen. Darauf muss er mir eine Antwort geben. Und auf die Frage, wie Wrotzeck den Unfall seiner Tochter aufgenommen hat, hat Lehnert sehr ausweichend geantwortet. Er wirkte sogar irgendwie erschrocken. Wie war das noch mal – »Ich weiß nicht, wie er es unmittelbar danach aufgenommen oder wie er reagiert hat. Ich nehme an, er war genauso entsetzt und erschüttert wie all die andern.« Genau das hat Lehnert gesagt.
    Ich habe tatsächlich nicht richtig zugehört, und ich habe auch nicht auf Lehnerts Körpersprache geachtet, zumindest nicht so, wie ich es hätte tun sollen. Er hat mir doch einiges durch die Blume mitgeteilt.
    Brandt nahm seinen Notizblock und einen Stift aus dem Seitenfach und schrieb alle Bemerkungen des Pfarrers auf. Er würde ihm schon bald noch ein paar Fragen stellen, ohne ihn jedoch in die Bredouille zu bringen, denn er wusste, wie streng Priester den Regeln der Kirche unterworfen waren. Einige Male schon hatte er mit ihnen zu tun gehabt, und einige Male hatte er dabei gespürt, wie gerne die Betroffenen geredet hätten, doch jedes Mal stand das unantastbare Beichtgeheimnis zwischen ihnen. Ich möchte kein Priester sein, dachte Brandt, ewig diese Gewissenskonflikte, dieses »ich würde es ja gerne sagen, aber ich darf nicht«. Selbst wenn ein Mörder zu einem Priester kam, um die Beichte abzulegen, hatte das absolute Beichtgeheimnis Bestand. Nicht einmal vor Gericht durftendie Geistlichen gezwungen werden, dieses in Brandts Augen antiquierte Gelübde zu brechen. Das Beichtgeheimnis, das so manchem Verbrecher, sogar Mörder quasi einen Freifahrtschein lieferte und die Arbeit der Polizei unnötig behinderte. Brandt erinnerte sich an den Fall eines Kindsmörders, der einem Priester seinen ersten Mord gestanden und danach noch drei weitere Kinder umgebracht hatte. Alle drei könnten noch leben, dachte er, wenn der Priester der Polizei einen Hinweis gegeben hätte. Hätte! Wie oft in meiner Laufbahn habe ich schon hätte, wäre, wenn gesagt. Wie viele Straftaten hätte ich verhindern können, wenn ich … Mein Gott, jetzt bin ich schon wieder bei diesem verdammten Konjunktiv! Ich muss und werde noch einmal mit Lehnert sprechen und versuchen, ihm über Umwege ein paar Geheimnisse zu entlocken. Na ja, wahrscheinlich sind es gar keine so großen Geheimnisse. Wrotzeck war, wenn ich das richtig verstanden habe, ein einfacher Landwirt, eben ein Bauer, und wahrscheinlich hat er seinem Beichtvater nur erzählt, was für ein Familientyrann er war. Und weil er sich nicht gebessert hat, hat Lehnert ihm auch die Absolution verweigert. So wird’s gewesen sein.
    Und außerdem, ich bin ja selbst Katholik, und meine Mutter geht jeden Sonntag zum Gottesdienst. Sie hat’s auch nicht anders gelernt, sie ist

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