Schrei in der Nacht
müssen schon auf den Abschaum
zurückgreifen, der in jedem Fall mit dem Gesetz in Konflikt
geraten wäre.«
»Das war früher alles ganz anders«, bemerkte er nachdenklich.
Sie drehte sich zu ihm und schrie ihn an:
»Natürlich war das anders! Aber die Zeiten haben sich
geändert! Und Sie sind nicht mehr zeitgemäß! Sie sind
altmodisch, überlebt!« Sorgenvoll schüttelte sie den
Kopf. »Sie hätten niemals zurückkommen sollen.«
Er holte tief Atem und versuchte zu lächeln.
»Das merke ich langsam auch.« Er stand eine Weile
unschlüssig, tippte mit der Schuhspitze auf den Boden und
erklärte dann: »Ich glaube, ich werde etwas Spazierengehen.
Wenn der kleine Murphy versuchen sollte, mir zu folgen, halten Sie ihn
bitte davon ab, ja? Ich möchte gern einmal allein sein!« Sie
nickte wortlos, und er machte auf dem Absatz kehrt, ging quer über
den Hof und zum Tor hinaus.
Auf der Rückseite des Hauses durchschnitt eine
kleine Schlucht das Gelände und lief auf die Berge zu. Fallon
sprang in diese Schlucht hinunter und stolperte dabei über Massen
von Geröll und Steinen. Als die Schlucht bergan lief, wich das
Geröll dichtem Heidekraut und üppigem Moos. Ein kleiner Bach
sprang über die weißen Steine, und eine Weile stand Fallon
still und lauschte auf das Geplätscher. Aber dann schob sich eine
Wolke vor die Sonne, und Schatten fiel auf die Gegend. Das
Geplätscher des kleinen Baches verklang in der Ferne, und nur noch
ein lastendes Schweigen lag über allem. Fallon erspürte
plötzlich Kälte, und ein Schauer kreatürlicher Angst
überlief ihn. Hier in der unendlich stillen Schlucht stand er vor
der Ruhe der Ewigkeit, und plötzlich wußte er um seine
eigene Bedeutungslosigkeit im großen Plan aller Dinge.
Fallon war wie zu Stein erstarrt und
wagte kaum zu atmen. Aber dann kehrte das Geplätscher des Baches
wieder in sein Bewußtsein zurück, und ein kleiner Windhauch
huschte durch das Heidekraut. Fallon zog sein Taschentuch hervor und
wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn. Als er sich in das
dichte Moostorf setzte und sich eine Zigarette anzündete,
zitterten seine Hände heftig. Tief zog er den Rauch in die Lungen,
und bald fühlte er sich besser. Er legte sich auf den Rücken
und kniff die Augen vor der strahlenden Bläue des Himmels
zusammen.
Er begann über Anne Murray nachzudenken. Hannah
hatte recht gehabt, natürlich. Alles, was das Mädchen
durchmachte, kam durch seine Schuld. Er hätte in der
bewußten Nacht niemals zu ihrem Haus zurückkehren sollen.
Wenn er die Ereignisse einmal logisch überdachte, so war alles,
was geschehen war, sein Fehler, weil alles auf Rogan
zurückzuführen war und er, Martin Fallon, derjenige war, der
Rogan befreit hatte. Eine Sache wurde ihm jetzt klar: Anne Murray
mußte fortgehen. Das einzig Schwierige würde sein, ihr dies
klarzumachen. Er seufzte und schloß die Augen. Sein Seufzer ging
in dem kleinen Windhauch, im Rauschen des Heidekrauts und im
Geplätscher des Wassers unter, und langsam schlief er ein.
Als er die Augen wieder aufschlug, saß Anne
Murray an seiner Seite und starrte gedankenvoll in den Bach, verloren
an ihre eigene Traumwelt. Eine Zeitlang lag er still, um sie
ungestört zu betrachten, und plötzlich, mit einem Gefühl
der Verwunderung, mußte er feststellen, daß sie schön
war! Schließlich richtete er sich auf. Schnell wandte sie sich
um, und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, das sie wie von innen
erleuchtete. Leise fragte sie: »Wie fühlen Sie sich?«
Er lächelte schwermütig: »Nicht so schlecht! Wie lange sind Sie schon hier?«
Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht eine halbe
Stunde. Sie haben nicht lange geschlafen. Hannah sagte mir, daß
Sie diesen Weg herabkommen würden. Sie glaubte, Sie würden
mich brauchen.«
Er nickte langsam. »Ich verstehe. Das war sehr rücksichtsvoll von ihr.«
»Seien Sie doch nicht so bitter.
Das paßt nicht zu Ihnen. Sie ist eine gute Frau. Ich mag sie, und
was wichtiger ist, sie mag Sie – sehr!«
»Das ist nichts Neues«, meinte er,
»sogar meine Mutter glaubte, daß ich ihr Lieblingsjunge
sei.« Er nahm sich eine Zigarette und bot ihr eine an; sie aber
schüttelte ablehnend den Kopf.
»Was haben Sie?« fragte sie. »Sie
sind jetzt so bitter. Das ist etwas, das ich vorher niemals bemerkt
habe.«
Er lächelte entschuldigend. »Wermut und Galle! Ich bin im Augenblick nicht sehr stolz auf mich.«
„Das sehe ich.« Sie nickte langsam.
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