Schrei in der Nacht
standen
sie auf der Bergspitze und sahen hinunter über das Tal. Ein
schwacher Wind fuhr über die Hügel, und im Osten begann sich
der Himmel zu verdunkeln. Fallon stand und schaute in die Schlucht
hinab. Es herrschte solch eine Stille, daß er das Wasser, wie es
im Flußbett über die Steine sprang, hören konnte. Anne
Murray rührte sich neben ihm und sagte mit einer Stimme, in der
unsagbare Traurigkeit schwang: »Ich wünschte, dieser Tag
ginge niemals vorüber.«
Er versuchte, eine passende Antwort zu finden, aber es
gab darauf nichts zu sagen. Nichts, das ihr Trost gewesen wäre,
den sie brauchte. Zärtlich nahm er ihre Hand in die seine,
drückte sie liebevoll, dann machten sie sich wieder auf den Weg
zum Bauernhaus.
Später am Abend kam der Regen, als Fallon nach
dem Abendessen allein über den Bauernhof schlenderte. Die Luft war
schwer und still, und der Regen begann mit einem heftigen
plötzlichen Schauer, so, als ob er jeden in Erstaunen zu versetzen
wünschte. Fallon lief schnell zu der alten Scheune, die in der
Nähe war, und stieß die Tür auf. Eine Leiter
führte zum Heuboden, die Fallon hochkletterte, um sich dann in das
duftende Heu in der Nähe eines kleinen runden Fensters fallen zu
lassen. Dann starrte er hinaus in den Regen.
Ein leichtes Geräusch, als ob jemand die Leiter
heraufkäme, ließ ihn aufhorchen, dann bewegte sich etwas
durch die Dunkelheit und setzte sich ihm gegenüber. »Ich sah
Sie hier hineinlaufen«, sagte Anne Murray. »Ich bringe
Ihnen Ihren Regenmantel.«
Er griff in die Dunkelheit und nahm den
Regenmantel. Ihre Finger berührten sich dabei. Für einen
Augenblick saßen sie atemlos und wartend in der Dunkelheit, dann
fiel sie nach vorn, ihm in die Arme. »Oh, Martin. Ich liebe dich.
Ich liebe dich unendlich.« Atemlos wiederholte sie seinen Namen,
immer und immer wieder.
Er hielt sie eng an sich gepreßt, ihren Kopf an
seine Brust gebettet. Nach einer Weile sagte er traurig: »Dieser
Moment hätte mir früher so viel bedeuten können.«
»Aber warum denn nicht jetzt?« fragte sie voller Angst.
Er lächelte etwas wehmütig. »Weil ich
zu alt bin – und nicht nur den Jahren nach. Und weil ich mich
schon vor Jahren selbst zugrunde gerichtet habe.« Er hielt sie
von sich und packte sie wild am Arm. »Kannst du nicht sehen,
daß ich nur noch ein wandelnder Leichnam bin? Ich bin es gewesen,
von dem Tag an, da ich zur Organisation gehörte.«
Sie warf ihre Arme um seinen Hals und küßte
ihn; wild und heiß. Die Küsse brannten in ihm und brachten
alle seine Sinne in Aufruhr. Für einige Augenblicke gab er ihnen
nach. Seine Arme erdrückten sie fast, und gierig erwiderte er ihre
Küsse. Doch stets blieb noch der kleine Funke der Vernunft in ihm
wach, der ihm sagte, daß alles sinnlos sei.
Er ließ sie los und sagte eindringlich:
»Es gibt keine Hoffnung für uns – kannst du das nicht
verstehen? Es wird niemals eine Hoffnung geben.«
Sie wurde still. Nach einer Weile meinte sie:
»Aber was ist mit deiner Hütte hinter der Grenze –
niemand kann uns dort erreichen.«
Er schüttelte den Kopf und seufzte.
»Außer mir«, sagte er dann, »selbst wenn wir
dort hingelangten, bliebe doch die Leere in mir.« Er starrte
wieder in den Regen und fuhr dann fort: »Ich habe mich zugrunde
gerichtet, und ich müßte verdammt sein, wenn ich dich
ebenfalls zugrunde richten würde.«
Sie kniete nieder und sagte ruhig: »Ich
verstehe. Und was tust du, wenn ich dir sage, ich werde nicht
fortgehen.«
Er zuckte die Schultern. »Du wirst es müssen, weil wir uns
bei der ersten besten Gelegenheit trennen werden.« Sie
versuchte etwas zu sagen, aber er erhob seine Stimme und fuhr fort:
»Keine Wenn und Aber. Du wirst dir eine Fahrkarte kaufen und
über die Grenze gehen. Dort wirst du sicher sein, bis diese
Angelegenheit mit Rogan erledigt ist. Vorläufig kommst du noch
leicht über die Grenze; nach dir wird man noch nicht
fahnden.«
»Und wie willst du mich zu alldem
zwingen?« fragte sie ruhig. Er zuckte die Schultern. »Wir
werden uns trennen, ob du es willst oder nicht.« In seiner Stimme
lag grimmige Entschlossenheit.
Für eine lange Zeit war nur die Ruhe da. Dann hob
Anne den Kopf, und Fallon konnte durch die Dunkelheit weiße
Flecken auf ihrem Gesicht erkennen. Sie war unheimlich ruhig, als sie
antwortete: »Was auch immer geschehen wird, ich werde in die
Hütte nach Cavan gehen. Das vergiß nicht.«
Für einen kurzen Augenblick
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