Schrei in der Nacht
Händedruck fast verschwand.
»Ich habe schon immer gesagt, daß du einen guten Geschmack hast, Erich«, bemerkte er. »Willkommen in Minnesota, Jenny.«
Sie mochte ihn sofort. »Ich bin froh, daß ich hier bin.«
Sie stellte ihm die Mädchen vor. Sie waren beide überraschend schüchtern. »Du bist so schrecklich groß«, sagte Beth und suchte Schutz hinter Jenny.
Dankend lehnte er den Kaffee ab. »Ich platze sehr ungern so herein«, sagte er zu Erich. »Aber ich wollte, daß du es von mir erfährst. Baron hat sich heute nachmittag eine Flechse gezerrt, ziemlich böse.«
Baron war Erichs Pferd. Erich hatte von ihm gesprochen: »Ein rassiges Vollblut, makellos, nervös, launisch. Ein bemerkenswertes Tier. Ich hätte ihn Rennen laufen lassen können, aber ich habe ihn lieber ganz für mich alleine.«
»Ist etwas gebrochen?« Seine Stimme klang sehr beherrscht.
»Nein, bestimmt nicht.«
»Wie konnte das passieren?«
Mark zögerte. »Irgend jemand hat die Stalltür offengelassen, und er ist hinausgelaufen. Er stürzte, als er über den Stacheldraht auf der östlichen Weide springen wollte.«
»Die Stalltür war offen?« Jedes einzelne Wort wurde messerscharf betont. »Wer hat sie aufgemacht?«
»Keiner will es zugeben. Joe schwört, daß er sie zugemacht hat, nachdem er Baron heute morgen fütterte.«
Joe. Der Fahrer. Kein Wunder, daß er so ängstlich ausgesehen hat, dachte Jenny. Sie blickte zu den Mädchen. Sie saßen mucksmäuschenstill am Tisch. Eine Minute vorher waren sie noch drauf und dran gewesen, durch die Küche zu toben. Jetzt schienen sie die veränderte Atmosphäre zu spüren, den Zorn, den Erich sich nicht zu verhehlen bemühte.
»Ich habe Joe eingebleut, dir kein Wort davon zu sagen, weil ich es dir selbst erzählen wollte. Baron wird in ein paar Wochen wieder in Ordnung sein.
Möglicherweise hat Joe die Tür nicht fest genug zugemacht. Er würde es nie mit Absicht tun. Er liebt das Pferd.«
»Ich bin überzeugt, daß hier niemand mit Absicht Schaden anrichtet«, zischte Erich. »Aber unabsichtlich ist genauso schlimm. Wenn Baron lahm wird…«
»Das wird er nicht. Ich habe ihn abgespritzt und verbunden. Warum gehst du nicht kurz rüber und siehst ihn dir an? Es wird dich beruhigen.«
»Vielleicht hast du recht.« Erich ging zum Wandschrank und holte einen Mantel heraus. Kalte Wut stand in seinem Gesicht.
Mark traf Anstalten, ihm nach draußen zu folgen.
»Nochmals willkommen, Jenny«, sagte er.
»Entschuldigen Sie, daß ich schlechte Nachrichten gebracht habe.« Als die Tür hinter ihnen zuging, hörte sie eine tiefe, ruhige Stimme: »Erich, reg dich bitte nicht auf…«
Die Kinder kamen erst nach einem warmen Bad und einer langen, mit vielen Unterbrechungen vorgelesenen Geschichte zur Ruhe. Erschöpft ging Jenny auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Sie hatte die Betten einfach aneinander und an eine Wand geschoben. Dann hatte sie den Schrankkoffer an die freie andere Seite gewuchtet. Das Zimmer, das vor einer Stunde noch so blitzblank und ordentlich gewesen war, sah nun aus wie ein Schlachtfeld. Die Koffer lagen geöffnet auf dem Boden. Sie hatte sie durchwühlt, um Pyjamas und Tinas geliebte alte Wolldecke zu finden, und sich gar nicht erst bemüht, richtig auszupacken. Sie war einfach zu müde.
Es konnte bis morgen warten.
Als sie herauskam, stand Erich vor ihr. Sie sah, wie sein Gesichtsausdruck wechselte, als er die Unordnung drinnen musterte.
»Lassen wir alles so liegen«, sagte sie abgespannt.
»Ich weiß, es ist eigentlich nicht richtig, aber ich räume lieber morgen früh auf.«
Sie hatte den Eindruck, daß es ihn Mühe kostete, einen beiläufigen Ton anzuschlagen. »Ich fürchte, ich kann nicht zu Bett gehen, ohne erst ein bißchen Ordnung zu machen.«
Er brauchte nur wenige Minuten, um alles auszupacken. Unterwäsche und Socken in Schubladen zu legen, Kleider und Jacken in den Wandschrank zu hängen. Jenny gab jeden Versuch auf, ihm zu helfen.
Wenn sie aufwachen, wird es Stunden dauern, bis sie wieder einschlafen, dachte sie, aber sie war auf einmal zu müde, um Einwände zu erheben. Zuletzt rückte er das hintere Bett so hin, daß es genau auf Stoß mit dem anderen war, stellte die kleinen Schuhe und Stiefel gerade davor, schob die Koffer auf ein Regal und machte die Tür des Wandschranks zu, die Jenny offengelassen hatte.
Als er fertig war, wirkte das Zimmer wieder viel netter und anheimelnder, und die Mädchen waren zum Glück nicht aufgewacht. Jenny zuckte die
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