Schrei in der Nacht
scheues Wesen war. »Ich kann meine Empfindungen eher beim Malen ausdrücken als mit Worten«, hatte er ihr erklärt. Alles, was er malte, drückte so viel Liebe aus…
Sie fühlte, wie seine Hand ihre Wange liebkoste.
»Wach auf, Liebling, wir sind gleich da.«
»Was? Oh. Bin ich eingeschlafen?« Sie richtete sich auf.
»Ich bin froh, daß du geschlafen hast, mein Liebes.
Schau mal aus dem Fenster. Der Mond ist so hell, daß man eine ganze Menge sehen kann.« Er klang freudig erregt. »Wir sind auf der Countystraße sechsundzwanzig.
Unsere Farm fängt an dem Zaun dort an, auf beiden Seiten der Straße. Die rechte Seite geht bis Gray’s Lake.
Die andere Seite windet sich hin und her. Allein der Wald ist fast achtzig Hektar groß; er endet am Tal des Minnesota River. Paß auf, jetzt kannst du ein paar von den Gebäuden sehen. Das sind die Heuraufen, wo das Vieh im Winter gefüttert wird. Dahinter ist das Getreidesilo, und da sind die Ställe und die alte Mühle.
Hinter der Biegung kannst du gleich die Westseite des Hauses sehen. Es steht auf der kleinen Anhöhe dort.«
Jenny drückte die Nase ans Fenster. Auf dem Hintergrund einiger Bilder Erichs hatte sie nur erkennen können, daß das Haus wenigstens teilweise aus hellem Backstein bestand. Sie hatte sich ein idyllisches altes Farmhaus vorgestellt, efeuberankt und anheimelnd.
Nichts von Erichs Erzählungen hatte sie auf das vorbereitet, was sie nun erblickte.
Selbst von der Seite gesehen war es offensichtlich, daß das Farmhaus ein Herrensitz war. Es war zwanzig bis fünfundzwanzig Meter lang und dreigeschossig. Licht flutete aus den hohen, eleganten Fenstern im Erdgeschoß.
Darüber verwandelte der Mond das Dach und die Giebel in gleißende Tiaras. Die verschneiten Wiesen umrahmten das Gebäude wie Hermelin und unterstrichen seine makellosen Linien.
»Erich!«
»Gefällt es dir?«
»Ob es mir gefällt? Erich, es ist traumhaft. Es ist dreimal, nein, fünfmal so groß wie ich dachte. Warum hast du mich nicht gewarnt?«
»Ich wollte dich überraschen. Ich habe Clyde gesagt, er solle unten alle Lampen anmachen, weil der erste Eindruck immer der wichtigste ist. Wie ich sehe, hat er es nicht vergessen.«
Jenny riß die Augen auf und versuchte, jede Einzelheit in sich aufzunehmen, während der Wagen langsam die Straße entlangfuhr. Am Nebeneingang begann eine weiße Holzveranda, die bis zur Rückseite des Hauses lief. Sie erkannte sie sofort wieder — von dem Bild ›Erinnerung an Caroline‹. Sogar die Schaukel war noch da, das einzige Möbelstück auf der Veranda. Ein Windstoß ließ sie sanft hin und herschwingen.
Das Auto bog nach links und fuhr durch ein offenes Tor. Die alten Laternen auf den Pfosten beleuchteten ein Schild mit der Aufschrift: Krueger-Farm. Die Einfahrt war von weißen Feldern gesäumt. Rechts fing der Wald an, ein dichtes Labyrinth von Stämmen, deren kahle Zweige sich wie schwarze Skelette im Mondlicht abzeichneten. Der Wagen bog wieder nach links und hielt auf dem Vorplatz vor den breiten Steinstufen des Eingangs.
Die massive, kunstvoll geschnitzte Doppeltür erhielt Licht durch ein fächerförmiges Fenster darüber. Joe sprang aus dem Wagen, um Jenny die Tür zu öffnen.
Schnell reichte Erich ihm die schlafende Tina. »Du bringst die Mädchen hinein, Joe«, sagte er.
Mit Jenny an der Hand eilte er die Stufen hinauf, legte den Riegel um und stieß die Türflügel auf. Er wandte sich ihr zu und sah ihr in die Augen. »Ich wünschte, ich könnte dich jetzt malen«, sagte er. »Ich würde das Bild
›Heimkehr‹ nennen. Deine schönen, langen, dunklen Haare, deine Augen, die mich so zärtlich anblicken. Du liebst mich doch, oder?«
»Ich liebe dich, Erich«, sagte sie ruhig.
»Versprich, daß du mich nie verläßt. Schwöre es, Jenny.«
»Erich, wie kannst du jetzt nur an so etwas denken?«
»Versprich es bitte.«
»Ich werde dich nie verlassen.« Sie legte ihm die Arme um den Hals. Sein Bedürfnis nach Liebe ist so groß, dachte sie. Den ganzen Monat lang schon machte ihr die Einseitigkeit der Beziehung zu schaffen — er der Gebende, sie die Nehmende. Erleichtert stellte sie nun fest, daß es doch nicht so einseitig war.
Er hob sie auf. »Jenny hat mich geküßt.« Jetzt lächelte er. Während er sie ins Haus trug, küßte er sie auf den Mund, zuerst suchend, dann mit wachsender Leidenschaft. »Oh, Jenny!«
In der Eingangsdiele setzte er sie ab. Der Fußboden bestand aus blitzendem Parkett, die Wände waren mit
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