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Schrei in der Nacht

Titel: Schrei in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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gelöst. Als sie es jedoch über den Kopf zog, merkte sie, daß es wie für sie gemacht war. Sie war schlank genug für die Wespentaille, die schmalgeschnittene Hüftpartie, den bis zu den Knöcheln gerade fallenden Schnitt. Das spitze Dekollete ließ den Ansatz ihrer Brüste frei. Sie sah in den Spiegel. Der Dampf war nun großenteils verschwunden, und winzige Tropfen liefen an dem Glas herunter. Das mußte der Grund sein, daß sie auf einmal so anders aussah. Oder war in dem Seegrün etwas, was den Aquamarinton ihrer Augen herausbrachte?
    Sie konnte schlecht behaupten, daß das Nachthemd nicht paßte, und zweifellos stand es ihr. Aber ich will es nicht tragen, dachte sie unglücklich: Ich komme mir darin vor, als wäre ich nicht ich selbst.
    Sie wollte es gerade wieder über den Kopf ziehen, als es leise klopfte. Sie machte die Tür auf. Erich trug einen grauen Seidenpyjama und einen Morgenmantel aus dem gleichen Material. Er hatte alle Lampen bis auf die Nachttischlampen ausgeknipst, und sein tiefgoldenes Haar bildete einen Gegenpol zu ihrem Licht.
    Die weinrote Brokatdecke lag nicht mehr auf dem Bett.
    Die Laken waren zurückgeschlagen. Bestickte Kissen lagen bauschig am hohen Kopfende.
    Erich hielt zwei Gläser Champagner. Er gab ihr eines.
    Sie gingen in die Mitte des Zimmers, und er stieß mit ihr an. »Ich habe nachgesehen, wie das Gedicht lautet, Liebling.« Langsam, mit leiser Stimme rezitierte er:
    »Jenny hat mich geküßt, als wir uns trafen, Sie sprang aus dem Sessel, in dem sie saß.
    Diebische Zeit, die du uns selten

    Was Süßes gönnst — behalte auch dies: Sag, ich bin müde, sag, ich bin traurig, Sag, mich flohen Geld und Gut,
    Sag, ich werde alt, doch dann vergiß nicht: Jenny hat mich geküßt.«
    Jenny fühlte, daß ihr Tränen in die Augen stiegen. Es war ihre Hochzeitsnacht. Dieser Mann, der ihr so viel Liebe entgegenbrachte, für den sie so viel Liebe empfand, war nun ihr Ehemann. Dieses schöne Zimmer gehörte nun ihnen. Was für eine Rolle spielte es da, welches Nachthemd sie trug! Hätte sie ihm diese Kleinigkeit abschlagen können? Sie wußte, daß ihr Lächeln genauso glücklich war wie seines, als sie einander zuprosteten. Er nahm ihr Glas und stellte es auf den Tisch, und voller Freude überließ sie sich seiner Umarmung.
    Als Erich, den Arm um ihren Kopf gelegt, das Gesicht in ihrem Haar vergraben, eingeschlafen war, lag sie noch lange wach. Sie war so sehr an den Straßenlärm gewöhnt, der zu den nächtlichen Geräuschen New Yorks gehörte, daß es ihr schwerfiel, die absolute Stille des Zimmers zu verkraften.
    Es war recht kühl. Sie mochte das und genoß die herrliche frische Luft. Aber es war so ruhig, so völlig still, bis auf die regelmäßigen Atemzüge, die sie an ihrem Hals spürte. Ich bin so glücklich, dachte sie. Ich habe nicht gewußt, daß man so glücklich sein kann.
    Erich war ein scheuer, zärtlicher und rücksichtsvoller Liebhaber. Sie hatte immer vermutet, daß es tiefere Empfindungen gab, als Kevin sie in ihr geweckt hatte. Es stimmte.
    Bevor Erich eingeschlafen war, hatten sie noch ein bißchen geredet. »Ist Kevin der einzige Mann vor mir gewesen, Jenny?«
    »Ja.«
    »Für mich hat es vorher niemand gegeben.«
    Meinte er, daß er vorher nie jemanden geliebt, oder etwa, daß er noch nie mit einer Frau geschlafen hatte?
    War das denn möglich?
    Sie machte die Augen zu und schlummerte ein. Als das erste fahle Licht ins Zimmer zu dringen begann, merkte sie, daß Erich unruhig wurde und vorsichtig aufstand.
    »Erich.«
    »Liebling, entschuldige, daß ich dich geweckt habe.
    Ich schlafe immer nur ein paar Stunden. Ich gehe jetzt zur Hütte und male. Ich komme gegen Mittag zurück.«
    Sie fühlte seine Lippen auf der Stirn und auf dem Mund und flüsterte: »Ich liebe dich.« Dann versank sie erneut in Schlaf.
    Als sie wieder erwachte, war es taghell. Schnell lief sie ans Fenster und zog die Jalousie hoch. Während sie hinausschaute, sah sie zu ihrer Überraschung, daß Erich gerade im Wald verschwand.
    Die Landschaft war wie auf einem seiner Bilder. Die Zweige der Bäume waren mit gefrorenem Schnee überzogen. Schnee bedeckte das Walmdach der Scheune, die dem Haus am nächsten stand, und weiter hinten auf den Weiden konnte sie hier und da Rinder erkennen.
    Sie blickte zu der Porzellanuhr auf dem Nachttisch.
    Acht Uhr. Die Mädchen würden bald aufwachen.
    Womöglich bekamen sie einen Schrecken, wenn sie sich in einem fremden Zimmer wiederfanden.
    Barfuß eilte sie

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