Schrei in der Nacht
der linken Seit der Frisierkommode war mit kleinen Stücken Fichtennadelseife gefüllt. Rechts von der Schale war eine silberne Toilettengarnitur mit Initialen aufgereiht, jedes Stück drei Zentimeter vom nächsten entfernt. Die Kommode stammt von Erichs Urgroßmutter; die Schale, die Caroline gekauft hatte, war venezianisch. »Caroline benutzte nie Parfüm, aber sie liebte den Duft von Fichtennadeln«, sagte Erich. »Die Seife kommt aus England.«
Fichtennadelseife. Das war der Geruch, den sie beim Betreten des Zimmers sofort wahrgenommen hatte — der Duft von Fichten oder Kiefern, so zart, daß man ihn nicht gleich einordnen konnte.
»Schlafen Tina und ich hier, Mami?« fragte Beth.
Erich lachte. »Nein, kleine Maus. Du und Tina seid auf der anderen Seite des Flurs, genau gegenüber von diesem Zimmer. Aber wollen wir uns nicht zuerst mein Zimmer ansehen? Es ist nebenan.«
Jenny folgte und erwartete, endlich einen Raum zu finden, der Erichs persönlichen Geschmack verriet. Sie war gespannt darauf, denn fast alles, was sie bis jetzt gesehen hatte, schienen Erbstücke zu sein.
Er öffnete schwungvoll die Tür des Zimmers nebenan.
Auch hier brannte die Deckenlampe bereits. Sie sah ein schmales Ahornbett mit einer farbenfrohen Steppdecke.
In einem halbgeöffneten Zylinderschreibtisch waren Bleistifte, Buntstifte und Malblöcke zu sehen. Ein Bücherregal mit drei Fächern enthielt das Volkslexikon.
Auf einer kleineren Kommode stand eine Trophäe der Schulliga. Die linke Ecke bei der Tür füllte ein hoher Schaukelstuhl. An der rechten Wand lehnte ein Hockeyschläger.
Es war das Zimmer eines Zehnjährigen.
7
»Seit Mutters Tod habe ich nie mehr hier geschlafen«, erläuterte Erich. »Als ich klein war, lag ich immer gern im Bett und lauschte auf die Geräusche, die sie nebenan machte. Am Abend nach dem Unfall brachte ich es plötzlich nicht fertig, hier hineinzugehen. Um mich zu beruhigen, gab Dad mir eins der beiden hinteren Schlafzimmer und zog selbst in das andere. Wir haben die vorderen dann nie wieder benutzt.«
»Du meinst, hier und nebenan hat seit fast fünfundzwanzig Jahren niemand mehr geschlafen?«
»Richtig. Wir haben aber die Räume nicht abgesprerrt.
Eines Tages wird unser Sohn in diesem Zimmer schlafen, mein Schatz.«
Jenny war froh, als sie wieder in den Flur traten. Trotz der bunten Bettdecke und der warm schimmernden Ahornmöbel hatte Erichs Kinderzimmer etwas Beklemmendes.
Beth zupfte ungeduldig an ihrem Rock. »Mami, wir haben Hunger«, sagte sie, keinen Widerspruch duldend.
»O Maus, entschuldige. Gehen wir in die Küche.« Beth lief den langen Flur hinunter, und ihre Schritte hallten für die kleinen Füße erstaunlich laut. Tina rannte ihr hinterher. »Warte, Beth!«
»Nicht laufen!« rief Erich.
»Macht bloß nichts kaputt«, warnte Jenny, denn sie mußte an das kostbare alte Porzellan im Wohnzimmer denken.
Erich nahm ihr den Nerzmantel von den Schultern und legte ihn sich über den Arm. »Nun, wie findest du es?«
Etwas in seinem Ton störte sie. Er schien darauf zu brennen, bestätigt zu werden, und sie fühlte sich veranlaßt, ihn auf die gleiche Weise zu beruhigen wie Beth, wenn sie eine ähnliche Frage gestellt hatte. »Es ist wunderschön. Ich mag es.«
Der Kühlschrank enthielt alles, was man für einen Vierpersonenhaushalt brauchte. Sie setzte Milch für Kakao auf und machte Sandwiches mit gekochtem Schinken. »Für uns habe ich Champagner«, sagte Erich.
Er legte den Arm über die Lehne des Stuhls, auf dem Jenny saß.
»Ich bin gleich soweit.« Sie lächelte ihn an und zeigte mit dem Kopf auf die Mädchen. »Sobald ich hier klar Schiff gemacht habe.«
Sie wollten gerade aufstehen, als es läutete. Erich verzog das Gesicht, aber seine Miene hellte sich auf, als er geöffnet hatte. »Mark, wie schön! Komm doch rein.«
Der Besucher füllte die ganze Türöffnung aus. Sein vom Wind zerzaustes, sandfarbenes Haar berührte beinahe den Sturz. Der dicke Parka mit Kapuze konnte die stämmigen Schultern nicht verbergen. Durchdringend blickende blaue Augen beherrschten die ausgeprägten Züge.
»Jenny, das ist Mark Garrett«, sagte Erich. »Ich hab’
dir von ihm erzählt.«
Mark Garrett — Dr. Garrett, der Tierarzt, Erichs bester Freund seit seiner Jugendzeit. »Mark ist wie ein Bruder«, hatte Erich ihr gesagt. »Wenn mir übrigens etwas passiert wäre, ehe ich geheiratet hätte, hätte er die Farm geerbt.«
Jenny streckte die Hand aus, die in seinem kühlen, festen
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