Schrei in der Nacht
daß sie wirklich froh bei uns war.«
Der Blick der Frau war auf die Wand gerichtet. Sie schien in sich selbst versunken, als erkläre sie etwas, was sie schon viele Male erzählt hatte. »Sie war unser einziges Kind. Wir haben lange auf sie gewartet. Sie war ein so niedliches Baby, und so begierig, Sie wissen, was ich meine. So aktiv, von der Minute an, wo sie geboren wurde. Deshalb sagte ich, wir wollen sie Arden nennen, für ardent (voller Leidenschaft). Der Name paßte sehr gut zu ihr.«
Beth und Tina drückten sich an Jenny. Diese Frau mit den starr blickenden Augen und der kaum merklich bebenden Stimme hatte etwas, was ihnen Angst machte.
Mein Gott, dachte Jenny, ihr einziges Kind, und sie hat zehn Jahre nichts von ihr gehört. Ich würde den Verstand verlieren.
»Sehen Sie, das ist sie.« Rooney zeigte auf ein gerahmtes Foto an der Wand. »Ich habe es aufgenommen, kurz bevor sie ging, nur zwei Wochen vorher.«
Jenny betrachtete das Bild eines kräftigen, lächelnden jungen Mädchens mit lockigen blonden Haaren.
»Vielleicht ist sie auch schon verheiratet und hat Kinder«, sagte Rooney. »Ich muß oft daran denken.
Deshalb habe ich gedacht, vielleicht ist es Arden, als ich Sie mit den beiden kommen sah.«
»Es tut mir leid«, sagte Jenny.
»Nein, nein, ich bin diejenige, die sich entschuldigen muß. Und sagen Sie Erich bitte nicht, daß ich wieder von Arden gesprochen habe. Clyde hat gesagt, Erich hat es satt, daß ich in einem fort von Arden und Caroline rede.
Er hat gesagt, Erich hätte mir deshalb die Stelle im Haus weggenommen, als sein Vater gestorben war. Ich habe mich sehr um das Haus gekümmert, als wäre es mein eigenes. Clyde und ich sind hierhergekommen, als John und Caroline heirateten. Caroline war sehr mit mir zufrieden, und auch als sie tot war, habe ich alles so gemacht wie vorher, als könnte sie jeden Augenblick zurückkommen. Aber kommen sie doch in die Küche.
Ich habe Krapfen gemacht, und die Kaffeemaschine läuft.«
Jenny konnte den Kaffeeduft riechen. Sie setzten sich in der freundlichen Küche an einen weißlackierten Tisch.
Tina und Beth machten sich heißhungrig über puderzuckerbestreute Krapfen her, die noch ganz warm waren, und tranken Milch.
»Ich erinnere mich noch, wie ich alle paar Tage Krapfen für Erich gemacht habe, als er noch so klein war wie Ihre beiden«, erzählte Rooney. »Ich war der einzige Mensch, dem Caroline ihn anvertraute, wenn sie einkaufen fuhr. Es war beinahe, als wäre er mein eigener Sohn gewesen. Und es kommt mir irgendwie immer noch so vor. Arden ist erst zehn Jahre nach unserer Hochzeit gekommen, aber Caroline bekam Erich schon in jenem ersten Jahr. Ich hab’ nie einen kleinen Jungen gesehen, der seine Mutter so geliebt hat. Er wollte immerzu in ihrer Nähe sein. Oh, Sie sehen wirklich so aus wie sie, es ist wirklich wahr.«
Sie griff nach der Kaffeekanne und schenkte Jenny nach. »Und Erich ist so gut zu uns gewesen. Er hat zehntausend Dollar für Privatdetektive bezahlt, um herauszufinden, wo Arden ist.«
Ja, dachte Jenny, das ist ihm zuzutrauen. Die Uhr über dem Spülbecken begann zu schlagen. Es war zwölf.
Hastig stand sie auf. Erich war sicher schon zu Hause.
Sie hatte das intensive Bedürfnis, bei ihm zu sein. »Mrs.
Toomis, wir müssen uns beeilen. Ich hoffe, ich kann mich bald für die Gastfreundschaft revanchieren.«
»Sagen Sie doch Rooney zu mir, das tun hier alle.
Clyde will nicht, daß ich wieder ins große Haus gehe.
Aber ich tue es heimlich. Ich gehe oft hin und sehe nach, ob alles noch schön ist. Und kommen Sie jederzeit wieder. Ich habe so gern Gesellschaft.«
Ein Lächeln rief eine bemerkenswerte Wandlung in ihrem Gesicht hervor. Die traurigen, tief eingegrabenen Linien verschwanden vorübergehend, und Jenny sah, daß ihre Vermutung, Rooney Toomis müsse früher einmal sehr hübsch gewesen sein, richtig war.
Rooney bestand darauf, daß sie einen Teller Krapfen mit nach Hause nahmen: »Dann haben Sie etwas für den Nachmittagskaffee.« Während sie ihnen die Tür aufhielt, schlug sie ihren Jackenkragen hoch. »Jetzt werde ich wohl wieder nach Arden Ausschau halten«, seufzte sie.
Ihre Stimme klang erneut vage.
Die hoch am Himmel stehende Sonne schien blendend hell auf die schneebedeckten Felder. Als sie um die Straßenbiegung kamen, erblickten sie das Haus. Die blaßroten Backsteine hatten einen warmen Schimmer.
Unser Zuhause, dachte Jenny. Sie hielt die Mädchen an der Hand. Streifte Rooney jetzt ziellos
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