Schrei in der Nacht
stehen und sah zu, wie das letzte Sonnenlicht verblich. Als sich der Horizont dann fahlgrau färbte, wollte sie sich umdrehen und ins Haus zurückgehen, doch eine Bewegung im Wald ließ sie innehalten. Sie starrte angestrengt hinüber. Jemand beobachtete sie, eine schattenhafte Gestalt, fast verdeckt von dem doppelten Stamm der alten Eiche, auf die Arden so gern geklettert war.
»Wer ist da?« rief Jenny laut und scharf.
Die Gestalt zog sich zurück und schien sich im Unterholz verstecken zu wollen.
»Wer ist da?« rief Jenny noch lauter als vorher. Sie verspürte Zorn über dieses Eindringen in ihre Privatsphäre und lief die Verandastufen hinunter zu den Bäumen.
Erich trat aus dem Schutz der Eiche und kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen.
»Aber Liebling, es war doch nur ein Scherz. Wie konntest du auch nur eine Sekunde lang glauben, daß es ernst gemeint war?« Er nahm ihr das zerknitterte Blatt Papier aus der Hand. »Weg damit.« Er warf es in den Herd. »Und nun denk bitte nicht mehr daran.«
Sie betrachtete ihn ratlos. Er war die Ruhe selbst, keine Spur von Hektik oder Nervosität. Er lächelte und schüttelte belustigt den Kopf. »Nicht zu fassen, daß du das ernst genommen hast«, sagte er und lachte. »Ich dachte, du würdest dich geschmeichelt fühlen, daß ich so tat, als wäre ich eifersüchtig.«
»Erich!«
Er umschlang ihre Taille, rieb seine Wange an ihrer.
»Hmm, das fühlt sich gut an.«
Kein Sterbenswörtchen darüber, daß sie sich eine Woche nicht gesehen hatten. Und der Zettel war kein Scherz gewesen. Er küßte sie auf die Wange. »Ich liebe dich, Jen.«
Sie stand einen Moment stocksteif da. Sie hatte sich geschworen, eine Aussprache herbeizuführen und über alles zu reden, seine tagelange Abwesenheit, die Eifersucht, die Post. Aber sie wollte jetzt keinen Streit anfangen. Er hatte ihr gefehlt. Plötzlich schien das ganze Haus wieder fröhlich zu sein.
Die Mädchen hörten seine Stimme und kamen ins Zimmer gelaufen. »Daddy, Daddy.« — Er hob sie hoch und schwenkte sie herum.
»He, ihr beide habt ja ganz toll Klavier gespielt. Ich denke, wir sollten euch bald Stunden geben lassen. Wie würde euch das gefallen?«
Mark hat recht, dachte sie. Ich muß Geduld haben und ihm Zeit lassen. Er sah sie über die Köpfe der Kinder hinweg an, und es kostete sie keine Mühe zu lächeln.
Das Abendessen war ein richtiges kleines Fest. Sie machte Spaghetti alla carbonara und Endiviensalat. Erich holte eine Flasche Chablis vom Weinregal. »Es fällt mir immer schwerer, in der Hütte zu arbeiten«, sagte er.
»Besonders seit ich weiß, daß ich solche Mahlzeiten verpasse.« Er kitzelte Tina. »Und es ist kein Spaß, von meiner Familie fort zu sein.«
»Und von deinem Heim«, sagte sie. Es schien ein günstiger Augenblick, von den Veränderungen zu sprechen, die sie gemacht hatte. »Du hast noch gar nichts dazu gesagt, daß ich ein paar Sachen umgestellt habe?«
»Ich kann nicht so schnell reagieren«, sagte er leichthin. »Ich muß mir alles genau ansehen und es auf mich einwirken lassen.«
Es ging besser, als sie gehofft hatte. Sie stand auf, ging um den Tisch und legte ihm die Arme um den Hals. »Ich hatte schon Angst, du würdest mir eine Szene machen.«
Er langte nach oben und strich ihr über das Haar. Seine körperliche Nähe ließ ihr Herz auch diesmal schneller schlagen, vertrieb Ungewißheit und Zweifel.
Beth war vor wenigen Minuten aufgestanden. Jetzt kam sie zurückgelaufen. »Mami, magst du Daddy lieber als unseren anderen Daddy?«
Warum um Gottes Namen muß sie das ausgerechnet jetzt fragen, dachte Jenny verzweifelt. Sie suchte krampfhaft nach einer diplomatischen Antwort, aber ihr fiel nur die Wahrheit ein. »Ich habe euren ersten Daddy vor allem wegen dir und Tina liebgehabt. Warum möchtest du das wissen?« Dann wandte sie sich zu Erich:
»Sie haben Kevin seit Wochen nicht mehr erwähnt.«
Beth zeigte auf Erich. »Weil dieser Daddy mich gefragt hat, ob ich ihn lieber habe als unseren ersten Daddy.«
»Erich, ich würde darüber nicht mit den Kindern sprechen.«
»Ich hätte es nicht tun sollen«, sagte er zerknirscht.
»Ich nehme an, ich wollte nur sehen, ob ihre Erinnerung an ihn langsam verblaßt.« Er umarmte sie. »Und wie ist es mit deiner, Liebling?«
Sie badete die Kinder und ließ sich dabei viel Zeit. Es beruhigte sie irgendwie, zuzusehen, wie sie vergnügt in der Wanne planschten. Dann hüllte sie die beiden in dicke Frotteetücher, streichelte
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