Schrei in der Nacht
erschienen ihr der halb aufgetaute und wieder erstarrte Boden, die dunklen Baumskelette und der dräuende, verhangene Himmel wie eine Drohung und deprimierten sie.
Ob Erich zu seinem Geburtstag zurückkommen würde? Er hatte ihr gesagt, daß er dann immer auf der Farm sei. Sollte sie das Essen absagen?
Die Abende allein waren endlos. In New York war sie oft mit einem Buch und einer Tasse Tee zu Bett gegangen, wenn die Mädchen eingeschlafen waren.
Erichs Bibliothek war ausgezeichnet, aber die Bücher darin luden nicht gerade zur unterhaltsamen Lektüre ein.
Sie waren wie mit dem Lineal ausgerichtet und anscheinend eher nach Größe und Farbe als nach Autoren oder, Sachgebieten geordnet. Auf Jenny wirkten sie fast genauso wie Möbel mit Plastiküberzügen. Sie konnte sie nur mit Widerwillen berühren. Das Problem war gelöst, als sie bei einer ihrer Erkundungen auf dem Speicher eine Kiste mit der Aufschrift Bücher — C B K bemerkte.
Überglücklich nahm sie ein paar von den angenehm abgegriffenen, zerschlissenen Bänden heraus.
Sie las bis spät in die Nacht, und doch fiel es ihr immer schwerer einzuschlafen. Ihr Leben lang hatte sie nur die Augen zumachen müssen, um sofort in tiefen, ununterbrochenen Schlaf zu fallen. Neuerdings wachte sie oft auf und hatte verschwommene, bedrückende Träume, in denen schattenhafte Gestalten durch ihr Unterbewußtsein glitten.
Am siebten März, nach einer besonders unruhigen Nacht, faßte sie einen Entschluß. Sie brauchte mehr frische Luft und Bewegung. Nach dem Mittagessen ging sie hinaus, um Joe zu suchen, und fand ihn im Büro.
Seine ungeheuchelte Freude über den Besuch wirkte wohltuend. Ohne lange Erklärungen sagte sie: »Joe, ich möchte heute mit Reitunterricht anfangen.«
Zwanzig Minuten später saß sie auf der Stute und versuchte, sich alle Anweisungen, die Joe ihr gab, einzuprägen.
Sie wurde sich bewußt, wie wohl sie sich jetzt fühlte.
Sie achtete nicht auf den eisigen Wind, auf die Tatsache, daß ihre Schenkel schon fast wundgescheuert waren, daß ihre Hände sich schon ganz taub anfühlten. Sie redete leise auf Feuermaid ein. »Gib du mir wenigstens eine Chance, altes Mädchen«, bat sie. »Ich stelle mich sicher furchtbar dumm an, aber ich fang’ ja erst an.«
Nach einer Stunde hatte sie allmählich das Gefühl, ihren Körper im Gleichklang mit dem Pferd zu bewegen.
Sie entdeckte Mark, der ihr offenbar zuschaute, und winkte ihm zu. Er kam herüber.
»Nicht übel«, sagte er. »Zum erstenmal auf einem Gaul?«
»Ja«, sagte sie und traf Anstalten, abzusteigen. Schnell nahm er den Zügel. »Die andere Seite«, sagte er.
»Was? Oh, natürlich.« Sie rutschte mühelos hinunter.
»Das war sehr gut, Jenny«, sagte Joe.
»Danke, Joe. Wie wäre es mit Montag?«
»Wann Sie wollen.«
Mark ging mit ihr zum Haus. »Sie haben in Joe einen Verehrer gefunden.« Hatte seine Stimme einen warnenden Unterton? Sie bemühte sich, neutral zu klingen. »Er scheint ein guter Lehrer zu sein, und ich denke, Erich freut sich bestimmt, daß ich reiten lerne. Es wird eine Überraschung für ihn sein, daß ich schon mit dem Unterricht angefangen habe.«
»Ich glaube kaum«, bemerkte Mark. »Er hat Sie eine ganze Weile beobachtet.«
»Mich beobachtet?«
»Ja, fast eine halbe Stunde lang vom Wald aus. Ich dachte, er wollte Sie nicht nervös machen.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er war kurz im Haus und ist dann wieder zur Hütte gegangen.«
»Erich war im Haus?« Ich rede wie eine Idiotin, dachte Jenny, als sie merkte, wie verblüfft ihre Stimme klang.
Mark blieb stehen, faßte sie am Arm und drehte sie zu sich. »Was ist los, Jenny?« fragte er. Sie malte sich unwillkürlich aus, wie er ein Tier untersuchte, um die Ursache des Schmerzes zu finden.
Sie hatten fast die Veranda erreicht. Jenny sagte stockend: »Erich ist schon, seit er aus Atlanta zurückgekommen ist, in der Hütte. Es ist nur … Ich fühle mich auf einmal schrecklich einsam. Früher war ich pausenlos im Einsatz und hatte mit Menschen zu tun, und jetzt… Ich habe zu nichts mehr Kontakt und komme mir langsam vor wie ein Fremdkörper.«
»Warten Sie bis morgen, vielleicht wird es dann besser«, riet er. »Übrigens, sollen wir wirklich zum Essen kommen?«
»Ich weiß nicht. Ich meine, ich weiß nicht mal, ob Erich dann zu Hause ist. Können wir es vielleicht auf den Dreizehnten verschieben? Dann liegen ein paar Tage zwischen dem Geburtstag und der Party. Wenn er bis dann immer noch nicht wieder da ist,
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