Schrei in Flammen
die Adoptionsunterlagen aus dem Landesarchiv anfordern.«
»Hm.« Sie hatte wieder den abwesenden Blick und schaute zum hundertsten Mal aus dem Fenster.
Winzige Veränderungen in ihren Zügen sagten ihm, dass sie gerade einen Plan ausbrütete. Er fragte sich, ob er versuchen sollte, sie davon abzubringen, wusste aber, dass das sinnlos wäre. Sie tat eh, was sie wollte, dachte er, als sie sich kurz darauf von ihm verabschiedete und ihn allein im Büro zurückließ.
*
Katrine fuhr auf dem Strandvej Richtung Skodsborg. Je weiter sie aus der Stadt herauskam, desto häufiger wurden die riesige Villen mit privatem Bade- und Bootssteg.
Sie hatte vom Parkplatz vor dem Polizeipräsidium im Kinderheim Skodsborg angerufen und nach Karin Hansson gefragt. Sie war vertröstet worden, dass Karin Hansson gerade beschäftigt sei, aber dass sie gern in einer Stunde vorbeikommen könne. Sie war etwas früh dran und hatte sich unterwegs noch einen Kaffee geholt, den sie nun im Wagen trank.
In letzter Sekunde sah sie das Hinweisschild und die kleine Stichstraße. Das Haus lag direkt am Wasser. Katrine parkte den Wagen auf dem Platz vor dem Haus. Sie klingelte, und eine Frau Ende sechzig öffnete ihr die Tür. Karin Hansson war klein und dünn und hatte warme, intelligente Augen.
»Treten Sie ein. Ich kann Sie leider nicht herumführen, das würde die Kinder stören. Setzen wir uns hier rein.«
Katrine folgte ihr in ein kleines Büro mit Blick aufs Wasser, das in einem Wintergarten eingerichtet war. Im Garten schauten ein paar Erwachsene zwei Kindern beim Spielen zu. Eins hüpfte auf einem Trampolin, das andere saß im Sandkasten und buddelte. Adam Havaleschka hatte recht gehabt. Dieser Ort war etwas Besonderes.
»Möchten Sie Tee oder Kaffee?«
»Kaffee, gerne.«
»Ich weiß noch gar nicht, worum es geht«, sagte Karin, als sie Katrine Kaffee einschenkte. »Aber als ich gehört habe, dass Sie von der Polizei sind, dachte ich mir, dass es wohl dringend sein wird.«
Katrine erklärte ihr, welche Position sie bei der Polizei hatte, dass sie wie ihre Kollegen der Schweigepflicht unterlag und dass ihr Anliegen einen Teil aktueller Ermittlungen betraf.
»Sie wollen also etwas über einen Jungen wissen, der 1972 von seinem Vater zur Adoption freigegeben wurde?«
»Ja«, sagte Katrine, gespannt auf die Antwort.
»O je, das ist lange her«, sagte Karin. »Da habe ich gerade hier angefangen. Ich kann mich noch gut an ihn erinnern, aber der Name … Na, ja, vielleicht fällt er mir gleich wieder ein. Jedenfalls ist er danach nie mehr hier gewesen, um uns zu besuchen.«
»Machen das sonst viele?«
»Relativ viele. Wissen Sie, es hat etwas Klärendes, den Ort wiederzusehen, an dem man ein kurzes oder längeres Stück seiner Kindheit verbracht hat. Viele schreiben uns auch. Und dann laden wir sie ein, uns doch noch mal zu besuchen. Das ist immer sehr berührend für alle. Manche brauchen Jahre, um sich zu überwinden, andere warten, bis die Adoptiveltern tot sind, ehe sie sich dazu in der Lage fühlen. Erst letzte Woche hatten wir einen fünfzigjährigen Mann, der zum ersten Mal hierher zurückgekommen ist. Er hat jahrelang Mut gesammelt und mehrere Verabredungen abgesagt, die wir zwischendurch vereinbart hatten. Wir sind zusammen durchs Haus gegangen, und als wir das Zimmer wiedergefunden haben, in dem er gewohnt hat, hat er hemmungslos geweint. Damals war noch keiner von uns hier, aber mit Hilfe von Aufzeichnungen und Briefen konnten wir seine Geschichte rekonstruieren.«
Katrine war ganz gerührt.
»Leider glücken nicht alle Adoptionen. Manche haben ihr ganzes Leben lang das Gefühl, die falschen Eltern zu haben. Die meisten Kinder haben aber ein gutes Leben bei den Eltern, die sie adoptieren, nur bei einigen wenigen stimmt einfach die Chemie nicht. Das wissen wir von denen, die zurückkommen und erzählen, wie sie ihre Zeit hier erlebt haben und wie es für sie weitergegangen ist. Dass sie sich aus dem sicheren Leben, das sie hier kannten, herausgerissen gefühlt haben und bei Erwachsenen gelandet sind, die komisch sprachen, verkehrt rochen oder nicht in der Lage waren, sich zu bücken.«
»Sich zu bücken?«, hakte Katrine interessiert nach. Diesen Ausdruck kannte sie in diesem Zusammenhang nicht.
»Ja. Man bückt sich, um mit dem Kind auf Augenhöhe zu sein.« Karin stand auf und bückte sich runter zu einem imaginären Kind. »Oder man verharrt in der Erwachsenenperspektive.« Sie richtete sich wieder auf und sah auf das
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