Schrei in Flammen
als sie über die Traditionen an Weihnachten, Neujahr und anderen Feiertagen las, die einen besonderen Stellenwert hatten, wenn man Teil einer Familie war.
Später lief sie zehn Kilometer, obwohl sie erst am Vortag eine lange Strecke gelaufen war. Ihre Beine fühlten sich schwer an. Den Muskeln hätte es sicher besser getan, sich etwas zu erholen. Aber ihr Kopf brauchte das. Zurück zu Hause machte sie noch ein wenig Krafttraining und schloss das Ganze mit einem Bad im Meer ab.
Später, nach einer ausgiebigen Dusche und einem schnellen Abendessen, saß sie noch lange auf der Terrasse, trank Rotwein und schaute übers Wasser. Sie dachte an ihren Vater. Wäre sie als Spenderin geeignet? Würde er wieder gesund werden?
Der Montagmorgen war grau und einige Grade kälter als die vorangegangenen Tage. Am Wasser war die Horizontlinie zwischen Meer und Himmel nicht mehr zu erkennen. Sicher fing es bald zu regnen an.
Jens saß im Büro, als Katrine kam. Das Licht und die ganze Stimmung wirkten irgendwie verdichtet, ja selbst die Möbel schienen einen Hauch enger zusammenzustehen als üblich.
Sie begrüßten sich und sahen sich an. Katrine setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch, beugte sich vor und sah ihm in die Augen. Er tat das Gleiche, beschwor das vertraute Gefühl zwischen ihnen herauf und sagte: »Danke für den schönen Abend.«
»Ganz meinerseits«, antwortete sie.
Er lehnte sich etwas zurück und sah sie an. »Du warst gestern bei dem Psychiater, oder?«
»Ja«, antwortete sie und fasste die wichtigsten Informationen kurz zusammen.
»Komm, gehen wir zu Melby und bringen ihn auf den neusten Stand«, sagte Jens.
Sie standen auf und gingen auf den Flur.
»Wissen wir mehr darüber, wer gestern auf wen geschossen hat?«, fragte Katrine, die die Schießerei in den Medien verfolgt hatte.
Jens schüttelte den Kopf. »Das ist ein einziges Chaos sich widersprechender Aussagen. Es hängt also hauptsächlich an den Ballistikern, die Situation zu analysieren.«
Sie hatten Melbys Büro erreicht. Jens klopfte an.
»Herein!«, ertönte es laut und energisch von drinnen.
Katrine ahnte ziemlich genau, wie das Gespräch verlaufen würde, aber sie versuchte sich einzureden, dass ihr Chef ihr freie Hand lassen würde, der Spur weiter nachzugehen.
Jens fasste kurz zusammen, was Katrine und er seit Freitagnachmittag herausgefunden hatten. »Da sollte man sich vielleicht etwas intensiver reinhängen, jetzt wo es mit der Beweislast gegen Dahl etwas zäh vorangeht«, sagte Jens.
Melby ging nachdenklich durch den Raum. Dann baute er sich vor ihnen auf. »Die Stadt steht wegen der Schießereien zwischen den Banden kopf. Wir haben wieder zwei Schwerverletzte. Die Bürger veranstalten Protestversammlungen und Demonstrationen, und Politiker und Journalisten schreien zunehmend lauter«, sagte Melby und sah von Katrine zu Jens. »Ich bin ganz eurer Meinung, dass diese Spur möglicherweise weiterverfolgt werden sollte, aber das fällt dann in die Zuständigkeit der Mordkommission. Wie soll ich in dieser Situation plausibel machen, dass die Taskforce Personenstunden abzieht, um den unbekannten Halbbruder von Maja Jensen ausfindig zu machen? Wenn es ihn denn überhaupt gibt. Wenn da nicht wenigstens ein Hauch von organisierter Kriminalität mitschwingt, fällt das nicht in unseren Bereich. Ich kann nur hoffen, dass ihr das versteht, auch wenn ihr ganz ergriffen seid von den faszinierenden Erkenntnissen, die ihr gesammelt habt. Jens, du bist für die nächsten Tage der Ermittlungsgruppe um die Schießerei zugeteilt. Und Katrine«, Melby sah sie streng an, »du hast sicher alle Hände voll mit deinen Untersuchungen zu tun. Ich werde derweil Kragh von eurem Fund unterrichten.«
Sie verließen Melbys Büro.
Katrine war niedergeschlagen. Jens war in Gedanken schon bei der Schießerei und den endlosen Verhören, die auf ihn zukamen. Er sah ihr an, wie es sie fuchste, dass Melby sie die Spur nicht weiterverfolgen ließ, und natürlich verstand er ihren Frust. Sie würde ebenso wenig von ihrem Plan abweichen wie eine Missile, die einmal auf ihr Ziel eingestellt war, dachte er und betrachtete ihre finstere Miene.
Sie trennten sich vor der Tür zu ihrem Büro. Jens musste weiter zum Briefing der Ermittlungsgruppe »Schießerei«.
Katrine setzte sich an ihren PC , fuhr ihn hoch, starrte dann aber aus dem Fenster, statt loszulegen. Sie fühlte sich wie in einer Zwangsjacke. Worin bestand eigentlich ihre Arbeit hier in der Abteilung?
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