Schrei in Flammen
den Kopf in die Hände. Es fühlte sich an, als hätte sie kaum geschlafen. Lange konnte es auch nicht gewesen sein, denn nachdem sie nach Hause gekommen war, hatte sie nicht gleich einschlafen können. Ihr Hirn hatte bereits begonnen, die Eindrücke vom Tatort und die Bruchstücke der nächtlichen Gespräche zu verarbeiten.
Sie stand auf, spürte ein Schwindelgefühl und ging ins Bad, um ein paar Schluck Wasser direkt aus dem Hahn zu trinken. Dann wischte sie sich den Mund mit dem Handrücken ab und betrachtete sich im Spiegel. Orangerote Haare rahmten ein blasses Gesicht ein.
Sie zog ihre Joggingsachen an und ging nach draußen, um den Traum abzuschütteln. Es hatte im Laufe der Nacht geregnet, alles war nass und frisch. Der neue Tag sollte schön werden, angeblich mit Temperaturen bis an die zwanzig Grad. Die Sonne ging auf.
Die Luft war prallvoll mit den Düften, die der Regen der Erde und dem Gras entlockt hatte, und dem Duft von blühendem Flieder. Die morgendliche Kälte prickelte auf der nackten Haut ihrer Arme und Beine. Sie beeilte sich, auf die Straße zu kommen, und lief los.
Den ersten Kilometer lief sie langsam und streckte ihre Glieder, dann zog sie das Tempo an. Nach zwei Kilometern war sie warm und hatte eine gute Geschwindigkeit erreicht. Der Puls stieg, und der Atem wurde tiefer. Nach drei Kilometern waren ihre Beine schwer vor Säure, aber sie lief weiter, wohl wissend, dass das nicht lange anhielt. Fünf Kilometer. Die Beine wurden leicht. Sie lief. Immer schneller. Ihr Körper wog jetzt nichts mehr, wobei sie jede Faser ihrer Muskeln spürte. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und liefen herunter. Immer schneller. Sie war jetzt sechs Kilometer an der Küste entlanggelaufen und sollte umkehren, wenn sie an der Obduktion teilnehmen wollte. Außerdem wollte sie die Eindrücke und Gedanken der vergangenen Nacht noch aufschreiben, bevor sie aufbrach.
Etwa einen Kilometer vor ihrem Haus lief sie hinunter zum Wasser und joggte am Strand entlang. Der schwere, nasse Sand gab bei jedem Schritt nach und erschwerte das Vorwärtskommen. Das Tempo wurde langsamer. Unterhalb des Hauses blieb sie am Strand stehen und atmete schwer ein uns aus.
Sie sah sich um. Es war kein Mensch zu sehen. Sollte sie? Sie legte alle Kleider ab, rannte ins Wasser und stürzte sich kopfüber hinein. Die Kälte verschlug ihr fast den Atem, und nach nur wenigen, hastigen Schwimmzügen machte sie kehrt, zog sich rasch wieder an und lief nach oben zum Haus. Das erste Meeresbad der Saison. Wärmer als beim letzten Mal, dachte sie.
Zurück im Haus nahm sie ihre Gewichte und absolvierte die Hälfte ihres einstündigen Programms, das sie jeden zweiten Tag durchzog. Langsam aber sicher zeigte sich das Resultat des Trainings. Sie hatte das Trainingsgewicht systematisch gesteigert, war kräftiger geworden, und auch ihre Muskulatur trat mittlerweise deutlich markanter hervor. Aber das Wichtigste von allem war, dass sie sich dadurch auch mental stärker fühlte.
Nach dem Duschen wickelte sie sich in ein Badetuch und ging ins Wohnzimmer. Sie schaltete den Computer ein und begann eine Art Protokoll, indem sie alle möglichen Details des vergangenen Abends aufschrieb, vom Tatort bis zum Verhör von Dahl. Als sie in der Nacht nach Hause gekommen war, war sie dafür einfach zu müde gewesen. Dann schloss sie die Kamera an den Computer an, startete die Bildkopie und ging in die Küche, um einen Kaffee zu trinken und einen Joghurt zu essen. In der Regel hatte sie einen gesegneten Appetit und war wirklich keine Kostverächterin, die Delikatessen und Spezialitäten aus der ganzen Welt mochte. London war diesbezüglich das reinste Paradies gewesen. In den letzten zwei Monaten hatte sie sich hingegen immer wieder selbst ermahnen müssen, etwas zu essen. Sie zog sich an und legte etwas Make-up auf. Eine halbe Stunde später fuhr sie Richtung Kopenhagen.
*
Endlich.
Christian Letoft seufzte tief. Ein Kunde war gerade in seinem neuen weißen Audi Q8 davongefahren, die Kaufsumme war bereits auf das Konto der Firma
Letoft Automobile
überwiesen worden. Es war der zweite Wagen, den Christian in dieser Woche verkauft hatte. Nach einer zwei Jahre langen, nicht enden wollenden Durststrecke. Die Finanzkrise hatte ihnen das letzte Hemd ausgezogen … Deutsche Luxusautos der Marken BMW und Audi waren zu Ladenhütern geworden, so dass seine Freude über den Verkauf fast so groß war wie bei seinem ersten Deal zu Beginn seiner Karriere. Die beiden
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