Schritte im Schatten (German Edition)
gesagt. Und jetzt sagte Joan Rodker zu mir, dass sie gerade dabei sei, eine unerfreuliche Mieterin loszuwerden, und dass sie schon seit geraumer Zeit daran gedacht habe, einer jungen Frau mit einem Kind zu helfen. Im Obergeschoss ihres Hauses gebe es eine kleine Wohnung, und die könne ich haben, vorausgesetzt, dass Peter ihr gefalle. Am folgenden Sonntag nahm ich Peter auf einen Besuch zu ihr mit, und sie mochten sich vom ersten Augenblick an. Also kann man sagen, dass es Peter war, der mein Wohnproblem für mich löste.
Und so zog ich in die Church Street in Kensington, in eine hübsche kleine Wohnung im Obergeschoss des Hauses, wo ich vier Jahre lebte. Das war im Sommer 1950 . Aber bevor ich die Denbigh Road verließ, erlebte ich das Ende einer Ära, den Tod einer Kultur: Das Fernsehen war mit einem Mal da. Vorher, wenn der Mann von der Arbeit nach Hause kam, stand der Tee bereits auf dem Tisch, im Kamin prasselte ein Feuer, aus dem Radio in einer Ecke kamen Worte oder leise Musik, sie wuschen sich und setzten sich hin auf ihren Platz, mit der Frau, dem Kind und allen anderen im Haus, die nach unten gelockt werden konnten. Essen kam vom Herd, Schüssel um Schüssel, Tee wurde aufgebrüht, Bier geholt, die Pullover oder Jacken abgelegt, die Männer saßen in Hemdsärmeln da, vor Wohlbefinden strahlend. Sie redeten, sie sangen, sie berichteten, wie ihr Tag verlaufen war, sie erzählten sich schmutzige Witze – ein Ritual –, sie stritten sich, brüllten sich an, sie küssten und versöhnten sich und gingen um zwölf oder um eins zu Bett, nach sechs oder mehr Stunden lebhaften Zusammenseins. Ich nehme an, dass diese Fülle emotionaler Intensität in britischen Haushalten damals nicht weit verbreitet war: Ich erlebte ein Extrem. Und dann, von einem Tag auf den anderen, oder besser, von einem Abend auf den anderen kam das Ende der guten Zeiten, denn das Fernsehen war da und saß wie eine Kröte in der Küchenecke. Bald stand der große Küchentisch an der Wand, Stühle wurden im Halbkreis aufgestellt, und auf den Armlehnen lagen die schwenkbaren Essenstabletts. Das Ende einer lebhaften mündlichen Kultur war gekommen.
Church Street, Kensington
W 8
Das Haus in der Nähe der Portobello Road hatte Kriegsschäden und war von Trümmergrundstücken umgeben. Das Haus in der Church Street war gleichfalls beschädigt, und in seiner Nähe standen Ruinen. Zur Beseitigung der Häuserleichen brannten oft Scheiterhaufen auf den Trümmergrundstücken. Ansonsten hatten die beiden Häuser nichts gemeinsam. In dem Haus, aus dem ich ausgezogen war, hatte Politik sich in Reden über Essen, Rationierung und die allgemeinen Dummheiten der Regierung erschöpft; die Church Street dagegen bedeutete eine sofortige Rückkehr zur internationalen Politik, zu den Kommunisten, den Genossen, zu leidenschaftlicher Polemik und dem Umbau Großbritanniens auf der Grundlage eines allen gemeinsamen politischen Entwurfs. Joan Rodker arbeitete für das Polish Institute, war Kommunistin, wenn auch kein Parteimitglied; sie kannte jedermann in »der Partei«, wie sie allgemein genannt wurde, und auch die meisten irgendwie künstlerisch tätigen Leute. Ihre Geschichte ist ungewöhnlich und hätte ein Buch oder zwei verdient. Sie war die Tochter zweier bemerkenswerter Menschen, aus dem armen, aber lebensprühenden East End, das damals noch die Künste und das Geistesleben im Allgemeinen mit Talenten belieferte. Ihr Vater war John Rodker, ein Schriftsteller und Freund bekannter Autoren und Intellektueller jener Zeit, der aus irgendeinem unerfindlichen Grund die Erwartungen nicht erfüllte, die jedermann in ihn gesetzt hatte, und Verleger wurde. Ihre Mutter war eine Schönheit, die den Malern, vor allem Isaac Rosenberg, Modell saß. Sie schoben Joan als Kleinkind in eine Institution ab, die eigens ins Leben gerufen worden war, um für die Kinder von Leuten zu sorgen, in deren Leben es keinen Platz für Kinder gab. Es war ein grausamer Ort, ungeachtet seiner vornehmen Fassade. Ihre Eltern besuchten sie von Zeit zu Zeit, erfuhren aber nie, unter welchen Bedingungen das kleine Mädchen gezwungen war zu existieren. Nachdem sie diesem Albtraum entronnen war, arbeitete sie als Schauspielerin bei einer Theatertruppe in der Ukraine. Sie war sehr sprachbegabt, hatte mühelos Deutsch und Russisch gelernt. Dort bekam sie von einem deutschen Schauspieler in der Truppe ein Kind. Da die bürgerliche Ehe für immer aus der Geschichte gestrichen worden war, heirateten sie
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