Schritte im Schatten (German Edition)
nicht. Sie half ihm, aus der Tschechoslowakei nach England zu gelangen, bevor der Krieg begann. Ich habe ihn in
Kinder der Gewalt
auftreten lassen, anstelle von Gottfried Lessing, weil ich dachte: Das ist Peters Vater. Der eine Mann entstammte der Mittelschicht, der andere war reich, sehr reich, ein Kind des Fin de Siècle. Mein Tausch der Persönlichkeiten verfehlte die beabsichtigte Wirkung. Gottfried behauptete, ich hätte ihn porträtiert, aber alles, was die beiden Charaktere gemeinsam hatten, war, dass sie Deutsche und Kommunisten waren. Das konnte nur bedeuten, dass Gottfried meinte, was ihn ausmachte, wäre seine politische Einstellung. Hinze, ein bekannter Schauspieler, war da, als Ernest, sein Sohn, aufwuchs, und unterstützte Joan mit Zeit und Geld. Auch er war ein bemerkenswerter Mann, und seine Geschichte verdiente es, aufgeschrieben zu werden. Schwere Zeiten bringen außerordentliche Menschen hervor. Doch mir fehlt eine praktikable Vorstellung, wie das in seinem Fall auszusehen hätte.
Joan kehrte nach dem Krieg mit dem Kind aus Amerika nach London zurück – und musste feststellen, dass sie nicht wusste, wo sie unterkommen sollte. Sie sah dieses Haus in der Church Street, zum Himmel hin offen, und beschloss: Das ist mein Haus. Sie schleppte eimerweise Wasser heran und begann Abend für Abend, wenn sie von der Arbeit kam, die Zimmer zu schrubben. Als die für die Beseitigung der Kriegsschäden zuständige Behörde Arbeiter schickte, die das Haus reparieren sollten, trafen diese Joan auf den Knien mit einer Scheuerbürste bei ihrem alltäglichen Ritual an.
»Was machen Sie da?«
»Ich mache mein Haus sauber«, sagte sie.
»Aber das ist nicht Ihr Haus.«
»Doch, das ist es.«
»Dann sollten Sie sich Dokumente beschaffen, die es beweisen.«
Sie hatte kein Geld. Sie ging zu ihrem Vater und verlangte, dass er für ein Bankdarlehen bürgen sollte. Er war bestürzt; Leuten, die sich aus extremer Armut hocharbeiten mussten, fällt es sehr schwer, sich für gut situiert zu halten. Mit einem verbürgten Bankdarlehen und ihrer Entschlossenheit bekam sie ihr Haus, in dem sie noch heute lebt.
All diese Schicksalsschläge hatten in ihr einen untrüglichen Sinn für die Probleme anderer Leute entstehen lassen. Sie wusste, wie man Leuten half. Ihre Freundlichkeit, ihre Großzügigkeit waren nicht sentimental, sondern praktisch und einfallsreich. Es gab eine Vielzahl von Menschen, mit denen ich sie vergleichen konnte, denn ich lernte Menschen kennen, die den Krieg, Lager, alle vorstellbaren Katastrophen überlebt hatten. Aber nur wenige hatte das, was sie durchzustehen gezwungen waren, zu besseren Menschen gemacht.
In der Denbigh Road war Peter glücklich gewesen, und hier gefiel es ihm ebenso gut. Joans Sohn Ernest, damals ein Teenager, war so wundervoll wie Joan selbst. Er war wie ein älterer Bruder. Menschen, die kleine Kinder ohne einen Partner, der die Last mit ihnen teilte, aufgezogen haben, werden wissen, dass damit das Wichtigste über mein damaliges Leben gesagt ist.
Kam mir das Leben in dem anderen Haus so fremd vor, als wäre ich in die Welt eines Romans aus der Viktorianischen Zeit eingetaucht, so glich das Leben in der Church Street dem von damals in der Wohnung in Salisbury, wo Tag und Nacht Leute hereinschneiten, wo es Tee gab, Essen, Argumente und oft hitzige Debatten. Wenn ich die Treppe hinauf- oder hinunterging, kam ich an der offenen Tür zu einer kleinen Küche vorbei, die oft voll war von Genossen, die einen Happen aßen, redeten, schrien oder in vertraulichem Tonfall Neuigkeiten austauschten, denn in der kommunistischen Welt ging damals vieles vor sich, was mit gedämpfter Stimme diskutiert wurde und nie an die Öffentlichkeit drang. Ich war abermals in eine Welt eingetaucht, in der jede Begegnung, jede Unterhaltung zu etwas Wichtigem wurde, weil, wenn man Kommunist war, die Zukunft von einem abhing – von einem selbst, den Freunden und Gleichgesinnten überall auf dem Globus, kurzum, man fühlte sich als Vorhut der Arbeiterklasse. Ich geriet in einen Zwiespalt. Nach meinem Leben mit Gottfried Lessing, einem sogenannten »Hundertfünfzigprozentigen«, hatte ich den Dogmatismus und die Selbstgefälligkeit satt. Wenn ich mit Gottfried zusammen war, der am Tiefpunkt seines Lebens angekommen war und in seiner Niedergeschlagenheit auf Nichtkommunisten und deren Ansichten noch heftiger und unhöflicher reagierte als früher, dann begegnete ich einem Spiegelbild meiner selbst – einer
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