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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Kleidung, die in einem winzigen Zimmer hoch unter dem Dach eines dieser uralten, kalten Häuser wohnte. Durch sie kam ich in Kontakt mit einem Netzwerk ältlicher und alter Frauen ohne Männer, alle arm, schäbig, die in Dienstbotenkammern von der Hand in den Mund lebten. Da waren sie, jede einzelne ein Opfer des Krieges. Viele von ihnen hatten in ihren kleinen Zufluchtsorten den Krieg überlebt und wussten oft selbst nicht so genau, wie ihnen das gelungen war. Geistreich und weise, waren sie die beste Gesellschaft. Wie bei den Flüchtlingen damals in London blieb rätselhaft, wovon sie eigentlich lebten. Mir wurde kostbarer Kaffee in herrlichen Tassen serviert, neben dem Herd, der mit Holz und Kohlen oder sonst etwas Brennbarem geheizt werden musste, das man auf der Straße auflas und dann Hunderte von Stufen hinaufschleppte. Madame Gise hatte seit Anfang des Krieges nichts mehr von ihrem Sohn gehört und behauptete, er habe sich dafür entschieden, sie zu verachten, weil sie keine Kommunistin sei. Ich sagte, ich sei eine Art Kommunistin, und sie sagte, Unsinn, Sie haben keine Ahnung davon. Diese Frauen, deren Ehemänner, Liebhaber oder Söhne gefallen waren oder sie vergessen hatten – sie waren so tapfer, unterstützten sich gegenseitig, wenn ihnen das Geld ausging oder wenn eine von ihnen krank war. Wieder, wie in London, hörte ich Geschichten von unfassbarem Überleben, Entbehrungen. Unser Gerede in London über Politik, sämtliche Ideen und Prinzipien über Vorgänge in anderen Ländern, lösten sich hier auf in: »Meine Cousine … Ravensbrück«, »Mein Sohn wurde von den Deutschen erschossen, weil er ein Mitglied der Résistance versteckt hatte«, »Ich bin aus Deutschland entkommen … aus Polen … aus Russland … aus Spanien …«
    In Paris kaufte ich mir einen Hut. Das bedarf einer Erklärung. Ich musste es tun – das war einfach unerlässlich. Ein Hut aus Paris bewies, dass man den Inbegriff der Eleganz eingefangen hatte. Madame Gise stand neben mir, sagte: »Nein, den nicht, ja, den da«; sie verkörperte Paris, diese schäbig gekleidete Frau mit einem sorgfältig gezählten Vorrat von Francs in ihrer Handtasche. Ich habe den Hut nie getragen. Aber ich besaß einen Pariser Hut. Aber was willst du damit anfangen?, fragte Joan.
    Auf einer anderen Reise, und in einem anderen schäbigen Hotel dachte ich plötzlich: Ist hier nicht Oscar Wilde gestorben? Ich ging hinunter zum Empfang, und die Inhaberin sagte: »Ja, das stimmt, er ist hier gestorben, und er hat in dem Zimmer gewohnt, das Sie jetzt haben.« Manchmal kamen Leute, die sie danach fragten, aber sie konnte ihnen nicht viel sagen, schließlich war sie ja nicht dabei gewesen. Als ich die Rechnung bezahlen wollte, war niemand am Empfang. Ich klopfte an eine Tür und hörte
Entrez
. Ich betrat einen dunklen, mit Möbeln vollgestopften Raum, mit Spiegeln in den Ecken, Schals über Stühlen, einer Katze. Da war Madame, in einem Sessel, mit aus ihrem rosa Korsett hervorquellendem Fleisch und ihren dicken Füßen in einer Schüssel voll Wasser. Das Dienstmädchen, ein junges Ding, bürstete ihr das rötliche alte Haar, während Madame es zurückwarf, als wäre es ein Schatz, in ihrer Fantasie eine jugendliche Fülle. Dies war eine Szene von Balzac? Zola? Keinesfalls aus einem Roman des zwanzigsten Jahrhunderts. Oder vielleicht Degas:
Die Concierge?
Ich blieb gebannt an der Tür stehen. »Legen Sie Ihr Geld auf den Tresen«, sagte sie. »Die Rechnung finden Sie dort. Und kommen Sie bald wieder, Madame.« Aber ich bin nicht wiedergekommen: Man soll Perfektion nicht verderben. Und ich habe auch Madame Gise nicht wieder besucht, und in dieser Beziehung habe ich ein schlechtes Gewissen.
    Bei einer dieser Reisen hatte ich eine der seltsamsten Begegnungen meines Lebens. Das Flugzeug zurück von Paris hatte stundenlange Verspätung. In Orly saßen wir herum, gelangweilt, müde, reizbar. Endlich konnten wir an Bord gehen. Neben mir nahm ein Südafrikaner Platz, der, nachdem er meiner Stimme angehört hatte, dass ich aus Rhodesien kam, zu reden begann. Zunächst dachte ich, er wäre betrunken, aber dann, nein, das ist kein Alkohol. Ich hörte kaum zu. Wir würden erst nach Mitternacht landen. Ich war noch Jahre entfernt davon, mir ein Taxi leisten zu können. Peter wachte immer noch um fünf auf. Langsam begann das, was der Mann erzählte, zu mir durchzudringen. Er erzählte mir, er sei in Palästina gewesen, um die »Irgun« bei ihrem Kampf gegen die

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