Schritte im Schatten (German Edition)
ganze Nachbarschaft regierten, und hier war eine, Mrs. Pearce, die meine Nachbarin werden würde. Es fiel mir nicht leicht, an diese Tür zu klopfen, weil ich glaubte, eine derart eng gefügte Gemeinschaft würde Neuankömmlinge nicht willkommen heißen, und schon gar nicht jemanden wie mich. Ich stellte mich vor, sagte, ich sei ihre neue Nachbarin und hoffe, eine gute zu sein. Das war ganz im Geist der Zeit, der kumpelhaften Sechziger, aber auch Taktik. Und ich meinte es ehrlich. Mrs. Pearce saß am Fenster, ausnahmsweise einmal mit dem Rücken dazu, und sagte: »Setzen Sie sich doch. Wir freuen uns, dass Sie dieses Haus wieder in Ordnung bringen. Es ist seit Jahren immer mehr vor die Hunde gegangen, oder etwa nicht?« Ein winziger Mann, fast ein Nichts von einem Mann, aber so muskulös, mager und krummbeinig wie ein Jockey, pflichtete ihr bei: »Vor die Hunde gegangen«, und grinste mich freundlich an, und ein uraltes Weib, ganz in Schwarz, zahnlos und schlecht riechend, wackelte mit dem Kopf und kreischte: »Vor die Hunde, vor die Hunde.« Außerdem war wirklich noch ein Hund da, ein munterer Mischling, der darauf achtete, niemandem unter die Füße zu kommen, das sauberste, hübscheste Ding im Zimmer.
»Tee«, befahl Lil Pearce, und der kleine Mann setzte sofort den Kessel auf.
»Er ist mein Mann«, sagte Lil Pearce, »aber das ist er nicht immer gewesen. Und das ist meine Freundin, Mrs. Rockingham.« Ich glaube, das war der Name. »Ich habe sie von der Straße hereingeholt. Ich habe sie aus der Gosse geholt. – Du hast in der Gosse gelebt, stimmt’s?«, brüllte sie der Alten zu. »Sie ist taub. Sie ist taub und fast blind. Aber ich bin gut zu ihr.« Sie lehnte sich vor, stemmte die Hände auf die Oberschenkel und brüllte: »Ich bin gut zu dir, stimmt’s?«
»Ja, ja«, kreischte die Alte zurück, »du bist sehr gut zu mir.« Sie arrangierte Kekse auf einem Teller und schnippte dem Hund Kekskrümel zu, der sie wie Fliegen aufschnappte.
»Kümmern Sie sich nicht um sie«, sagte Lil. »Sie ist nicht mehr ganz richtig im Kopf. Du bist ein bisschen verrückt«, brüllte sie der alten Frau zu, die zurückbrüllte: »Ja, du hast recht.«
»Und nun fragen Sie mich alles, was Sie wissen wollen, und ich erzähle es Ihnen«, sagte sie. Und sie tat es. Sie wohnte seit Kriegsende in dem Haus neben Nr. 60 . Die alte Frau, von der ich Nr. 60 gekauft hatte, war eine gute Freundin von ihr gewesen. Lil kannte jedes Detail von dem, was in dem Haus passiert war – wer dort geboren war, wer dort gestorben war, wer sich aus dem Staub gemacht hatte, ohne die Miete zu bezahlen, sämtliche Hunde und Katzen, die dort gelebt hatten.
Mrs. Pearce hatte ihr Haus vom Greater London Council, aber es bestand auch ein kompliziertes Verhältnis zum Camden Council, und sie hatte die beiden Zimmer im obersten Stockwerk vermietet. Der Zustand von Nr. 58 war derselbe wie der von Nr. 60 , als ich es das erste Mal besichtigt hatte – Gasbeleuchtung, gefährliche Stromleitungen, kein Badezimmer, eine einzige scheußliche Toilette und natürlich keine Zentralheizung. In dem zur Straße liegenden Wohnzimmer, in dem die drei praktisch lebten, brannte ständig ein Feuer im Kamin.
Lil Pearce hätte bis zum nächsten Morgen weitergeredet, wenn ich so viel Zeit gehabt hätte, und gewiss hat mich selten etwas so fasziniert wie diese Chronik, die von Dickens hätte stammen können. Als ich ging, sagte sie, sie sei froh, dass nebenan jetzt ein bisschen Leben einziehen würde, und sie befahl der Alten: »Sag ihr, wir freuen uns, dass sie da ist«, und die alte Frau krächzte gehorsam: »Das stimmt, dass sie da ist.«
Was Len Pearce angeht, so gehört er zu den Leuten, an die ich denke, wenn mich der Zustand der Welt und der Menschen darin deprimiert. Er steht auf meiner privaten Liste der Kandidaten für den Himmel ganz obenan. Er war ein guter, freundlicher, großzügiger, liebenswerter Mann, und er wurde von seiner Frau wie ein Hund behandelt. Tu dies, hole das, bring mir jenes. Er beklagte sich nie. Er hatte fast sein ganzes Leben als Markthelfer gearbeitet, aber jetzt war er dazu zu alt und erledigte kleine Jobs für den Stadtrat. Er war Analphabet. Er war so klein und dünn und krummbeinig, weil er das Produkt jener fürchterlichen Armut war, die England seiner Arbeiterklasse zwischen den beiden Weltkriegen zugemutet hatte. Es hatte viele Tage gegeben, erzählte er mir, wo er und seine Brüder und Schwestern nichts zu essen
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