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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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sauber und atmosphärisch, wie abgeschöpft aus reinem Raum.
    Nach der Fahrt durch dieses Dickicht von Leben, bis hierher in die Finsternis des Nordens, überkam mich ein akutes Gefühl der Sehnsucht. An meiner Lage gab es nichts mehr zu schrauben, das begriff ich. Ich war wie ein Toter, der gegen den eigenen Tod Einspruch erhebt. Zu erkennen, wie verspätet und unzulänglich ein solcher Einspruch war, machte mich allzu traurig. Aber warum war sie mir nicht vergönnt gewesen? Diese Welt, diese Welt der Gemeinsamkeit. Diese frottierten Familien, die wie die Wanderschildkröten barfuß unter den Straßenlaternen herliefen und zu viert oder fünft in einem Zimmer unter dem Deckenventilator schliefen, mit ihren Träumen, die von einem Kopf zum nächsten sprangen, das Baby, das sich an seine Schwester schmiegt, der – aus dem Schlaf geschreckte – Vater, der träge seine Brut zählt, ein, zwei, drei Kinder und eine Frau, die Ehefrau (alte Freundin, wie kommt es, dass du noch immer so hübsch aussiehst?) inmitten eines abgetragenen Traums. Der in Boxershorts mit dem Eimer zur Eiswürfelmaschine läuft. Mottenschwärme im Scheinwerferlicht. Mitternacht, ein Schlückchen Canadian Club aus dem Plastikbecher. Warum konnte ich nicht er sein? Selbst die Langeweile, den Alltagsalkoholismus hätte ich hingenommen. Ich wäre jeden Tag aufs Neue dafür dankbar gewesen.
    Doch der Tote zieht nach Norden, und seine Seele ist schon auf Himmelfahrt. Ich fuhr etwas weiter als geplant. (Die Straßen da oben sind endlos.) Sich von einer Sache zu entfernen heißt auch, einer anderen Sache näher zu kommen, das war mir immerhin klar.
    Nur, welcher Sache näherte ich mich genau?
    Von welcher entfernte ich mich?
    Das schlechte Gewissen beschleunigt und drückt das Gaspedal durch. Die Gedanken kommen mit zu hoher Geschwindigkeit. Das ist seine Strafe. Jedes Mal, wenn im Rückspiegel Scheinwerfer auftauchten oder wenn ich ein Auto aus einiger Entfernung aufholen sah, setzte diese Geschwindigkeit ein. Die Scheinwerfer kamen immer näher und füllten meinen Rückspiegel aus, und ich fuhr unweigerlich schneller. Ich raste dahin, genau wie meine Gedanken. Erst wenn mich die Autos überholt hatten, drehte sich alles in meinem Kopf von der plötzlichen Entschleunigung. Beim Anblick der rotleuchtenden Rücklichter wurde mir übel. Ich wusste, dass ich etwas falsch machte. Aber auch mir war nicht immer recht geschehen. Und im Dienste der Richtigkeit macht man nun mal hin und wieder etwas falsch.
    Ich kam an einem Schild vorbei, PARADOX, 2 MEILEN, und lachte bitter auf.
    Meadow regte sich auf der Rückbank.
    »Papa?«, sagte sie verschlafen. »Ist alles okay, Papa?«
    »Gott ja, bestens. Ich will nur sagen, es ist toll, mit dir zusammen zu sein. Schlaf weiter.«
    Und da kam Al Green uns abhanden, und alles, was ich dem Radio entlocken konnte, waren ein paar aufgebrachte Männer im Gespräch über den Baseballspieler Manny Ramirez. Im Osten erspähte ich Lake Champlain als schwarzen Fleck.
    Manche Dinge vergisst man nicht .
    Aufgewühlt vom Anblick der dunklen Weite des Lake Champlain verließ ich fluchtartig die Landstraße und fuhr in Richtung Highway. Ich kramte im Handschuhfach meines Freundes, fand zu meiner Erleichterung einen Flachmann mit verkrustetem Schraubverschluss und nahm einen Schluck. Das Armaturenbrett glühte raumschiffgrün. Das Funksignal war uns, wie gesagt, abhandengekommen. Es war ohnehin schon kurz vor Mitternacht. Niemand schien mit mir wach zu sein. Es schien überhaupt niemand am Leben zu sein. Auf der Rückbank schlief Meadow, das Badehandtuch übers Kinn gezogen. Ich spielte mit dem Gedanken, sie zu wecken, nur um eine menschliche Stimme zu hören.
    Beim Anblick der Lichter von Plattsburgh wurde ich wieder ruhig. Plattsburgh ist ein Knäuel von einer Stadt, erstaunlich verarmt und kein Ort, an dem es einen lange hält. Vor Kasernen hängen Weiße ab, deren Kinder die ganze Nacht hellwach sind. Die offensichtlich fehlende Polizeipräsenz in Plattsburgh gab mir das Gefühl, hier könne man gut Halt machen. Ich brauchte eine Rast. Und ich musste wieder zu mir kommen. Meadow schlief weiter. Ich stellte mich auf den beleuchteten Parkplatz einer Heizölfirma, ließ das Auto im Leerlauf stehen und entfernte mich so weit, wie es vertretbar war. Hinter mir erhoben sich die riesigen Trommelleuchten des Hafens. Mein Schatten lag lang auf dem stoppeligen Rasen. Und in dem Moment begann ich auf einmal flach zu atmen. Meine Kehle zog sich

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