Schroders Schweigen
ein Leichtmetallflugzeug, bemalen es mit Sowjetinsignien und landen mitten im Treptower Park, wo der dritte lang verlorene Bruder und dessen kleiner Sohn hastig an Bord klettern. Sie fliegen zurück nach Westberlin, und der kleine Junge brüllt sich den ganzen Flug über aus lauter Freude und Verwirrung die Seele aus dem Leib. Diese Geschichte ist berühmt. Und wenn nicht, sollte sie es sein.
Wenn ich eins weiß, dann das: Ein staubiger Sprint über den Todesstreifen wäre weit unter dem Niveau meines Vaters gewesen. Mein Vater war Sammler, Bastler, ein richtiger Streber. Mein Vater war Augenzusammenkneifer, Skeptiker, ein Sich-über-Unterlagen-Beuger, ein Geräte-Auseinandernehmer. Wie lange er auch über unsere Flucht nachgedacht haben mochte – das heißt, über seine und meine –, ich stelle mir vor, dass er so weit als möglich alle Methoden der Mauerüberquerung beleuchtete und ihre relativen Vorzüge gegeneinander abgewägte. Er wird sie alle studiert haben: die Sprinter, die Springer, die Tunnelbauer, die Zugentführer, die Flieger, die Gleiter, die Schwimmer, die Taucher, die Segler, die Bulldozer, die Blender und die Reisepassfälscher. Ein interner DDR-Bericht mit dem Titel »Übersicht über versuchte und geglückte Grenzverletzungen an den Grenzsicherheitsanlagen (Dezember 1974 bis Mai 1982)« stellt eine interessante Lektüre dar. Diesem Dokument zufolge wurden 7282 Grenzverletzer inhaftiert. Nur 313 gelang die Flucht.
Eine kleine Zahl, aber sagen wir, sie stimmt.
Ich erzähle dir das nicht, um anzugeben.
Ich erzähle dir das, weil ich mich mit Grenzen auskenne.
DAS GEHEUL
Da waren wir also, am Straßenrand, meine Tochter und ich. Sie saß brav im Kofferraum eines gestohlenen Mini irgendwo kurz vor Champlain, New York. Und ich hatte die Hand an der Heckklappe und überlegte hin und her, wie ich ihr das nun erklären sollte. Am Ende brachte ich kein Wort heraus. Ein Sattelschlepper zog knirschend den Highway herauf, ergoss seine Scheinwerfer über die traurige Szene und brach das Schweigen zwischen uns. Ich machte keine Anstalten, mich zu verstecken. Der Fahrer hielt nicht an. Ein Mann, der gerade im Begriff war, ein Kind in einen Kofferraum zu stopfen – was geht mich das an!
»Papa?«, sagte Meadow wieder, die verzaubert war von meinem Plan, obwohl sie Gefahr witterte. Das Pfeifen ihres Atems verriet, dass sie gestresst war. Dieser kochende Teekessel, dieses fürchterliche Keuchen, dieses Gefühl, keine Luft zu bekommen.
Ich reichte ihr meine Hand. Meadow nahm sie.
»Komm mal da raus«, sagte ich mit trockenem Lachen. »Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«
Sie stieg aus dem Kofferraum und balancierte auf dem Kotflügel, bevor sie zu Boden sprang. Sie warf einen kurzen Blick auf die Straße hinter uns, weitere Lastwagen kamen auf uns zu. Ihre Scheinwerfer leuchteten durch die schmale Öffnung zwischen ihren Knien.
»Wo sind wir?«, fragte sie.
»Im Norden«, sagte ich.
»Ach so. Fahren wir jetzt immer weiter und weiter?«
»Nicht da lang«, sagte ich und zeigte auf die Grenze. »Ich weiß es gerade nicht.«
Ich setzte mich auf den Kotflügel und wischte mir mit dem Ärmel übers Gesicht.
Sie drehte sich um. »Wenn wir immer weiterfahren würden, wo wären wir dann?«
»Kanada«, sagte ich.
»Und danach?«
»Baffin Bay, glaube ich.«
»Und danach?«
»Grönland?«
»Und danach?«
»Herrje, Meadow, nirgendwo. Am Meer. Komm her. Du brauchst etwas Luft.« Ich holte ihren Rucksack aus dem Kofferraum, nahm ihren Inhalator aus der Außentasche ihres Rucksacks und schüttelte ihn. Sie beugte sich nach vorn und ließ sich zwei Sprühstöße verabreichen. Ich steckte den Inhalator dorthin zurück, wo ich ihn gefunden hatte, neben die säuberlich aufgerollte Tube Zahncreme mit Erdbeergeschmack.
»Nein, nach dem Meer«, sagte sie und atmete medizinisch vorschriftsmäßig vor mir aus. »Auf der anderen Seite vom Nordpol.«
»Ach so, jetzt verstehe ich, was du meinst. Russland.«
»Und danach?«
»Weiß ich nicht, Meadow.«
»Papa?«
Ein Strom Autos fuhr an uns vorbei, ohne Unterlass, ein stetes Wogen.
»Papa?«
»Ja?«
»Du bist ganz nass im Gesicht.«
Ich berührte meine Wangen.
»Ach so«, sagte ich. »Wahrscheinlich weil ich gerade weinen muss. Macht dir das was aus?«
»Nein.«
»Gut.«
Wir betrachteten den Verkehr.
»Macht dich das auch traurig, wenn ich traurig bin, Meadow?«
»Ja.«
»Tja, dagegen kann man im Grunde nichts machen. Man muss es
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