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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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zusammen. Ich griff mir an den Hals. Großer Gott, dachte ich, nicht jetzt. Es war mir natürlich schon passiert, allerdings seit einer Ewigkeit nicht mehr. Als ich klein war, hatte ich das öfter. Das Mittel dagegen – damals in den dunklen Tagen der Medizin nach Sowjetart – waren lange Dampfbäder, während meine Mutter als verschwommener Schatten auf dem Rand der Toilette saß und mich in regelmäßigen Abständen fragte, ob es mir schon besser gehe. Ich will nicht sagen, dass mein Leben und die Aneinanderreihung meiner Dummheiten vom Schicksal bestimmt waren. Und dennoch. Es war Jahre her, dass ich dagestanden und nach Atem gerungen hatte wie dort auf dem Parkplatz in Plattsburgh. Mir war, als wäre ich soeben im Stockfinstern aufgewacht, um von einem hellen Licht ohne ersichtliche Quelle geblendet zu werden. Endlich war ich wach, aber wer war das da hinten? Wer hielt den Scheinwerfer?
    Also tat ich Folgendes: Ich beschloss, nach Kanada zu fahren. Nur kurz. Ich hatte meinen Reisepass dabei, und mir war klar, selbst wenn der Opi die Polizei in Sachen Eric Kennedy benachrichtigt hatte, suchte zurzeit noch niemand nach einem Erik Schroder. Und da ich Meadows Pass nicht dabeihatte und da sie schlief, dachte ich mir, ich nehme sie einfach und lege sie in den Kofferraum und fahre mit ihr über die Grenze. Angeblich konnte man die Grenze nach Kanada völlig unbehelligt passieren. Der Halt würde aus freundlichem Geplauder bestehen, in etwa so:
    Tagchen.
    Hallo, Sir.
    Deutscher Staatsbürger, ja? (Blickt mir blinzelnd ins Gesicht.)
    Machen Sie Urlaub?
    Ja, so ist es. Ich wollte mir unbedingt mal Kanada ansehen.
    (Lässt den Lichtstrahl kurz über die leere Rückbank schweifen.) Na, dann mal los, Sir. Angenehmen Abend noch .
    Die Suchlichter an der Grenze waren vom Highway aus zu sehen, ein Feuerschein in der Ferne. Ich hielt am Straßenrand. Ich drehte mich um und sah Meadow auf der Rückbank schlafen. Ganz sachte rüttelte ich sie am Bein. Keine Reaktion. Ich stieg aus dem Wagen aus und öffnete im mondlosen Dunkel den Kofferraum. Er war sehr klein, ein Mini eben. Ich formte ein Nest aus dem, was da war – den Lake-George-Handtüchern und ein paar Kleidungsstücken, die mein Freund vergessen hatte. Ich schob die Starthilfekabel zur Seite und fegte den rauen Stoff sauber. Dann öffnete ich die Beifahrertür zur Straße, zwängte mich ins Wageninnere und nahm mein schlafendes Kind in die Arme. Ich hob Meadow hinaus, legte sie in den Kofferraum und schlug ihre Arme und Beine in die Handtücher ein. Sie schien es einigermaßen bequem zu haben. Ich tätschelte ihre Schulter. Sie wird einfach schlafen, sagte ich mir. Die Fahrt über die Grenze würde weniger als eine Viertelstunde dauern. Und dann hätten wir alle Zeit der Welt, egal, wie viel oder wie wenig wir davon wollten – nein, wir wären außerhalb der Zeit; wir wären von ihr befreit. Ich griff noch nach Meadows Rucksack auf der Rückbank und ging auf Zehenspitzen über den Kies, um ihn neben ihre Füße zu legen, und da stellte ich fest, dass sie mit offenen Augen zu mir hochstarrte.
    »Was machen wir, Papa?«, flüsterte sie. »Warum bin ich im Kofferraum?«
    Mit der Hand an der Heckklappe stand ich da und sah zu ihr hinunter. Ihre Augen waren glänzend und farblos. Die Rücklichter des Autos tauchten das Gras, die Straße und meinen Körper in rotes Licht.
    »Würde es dir sehr viel ausmachen, wenn –« Ich räusperte mich. »Wäre es dir sehr unlieb, wenn –«
    Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich machte ein paar Schritte ins Gras und übergab mich. Kurz stand ich da, vornübergebeugt im dunklen Gebüsch. Als ich einen Blick zurück zum Auto warf, hatte Meadow sich aufgesetzt, krallte sich in die Gummierung des Kofferraums und sah mich mit besorgter Miene an.
    Aber ist Kindheit nicht genau das? Ein unfreiwilliges Abenteuer? Eine Entführung?
    Wurde man etwa von irgendeinem Engel gefragt: Entschuldige, möchtest du gern jetzt geboren werden? Möchtest du gern als Kind dieses oder jenes Menschen geboren werden?
    Wann hat man seinem eigenen Leben zugestimmt?

GESETZESÜBERTRETER
    Ein wenig deutsche Geschichte, wenn man so will. Kriege drehen sich oft um Landkarten – Landkarten und Grenzen –, aber gelegentlich auch um Mauern. Die meisten Deutschen zucken zusammen beim Thema neuerer Geschichte, denn beim Blick über die Schulter sehen sie einen Schatten in Gestalt eines Schurken, mit dem die wenigsten von uns hier leben müssen. So viel indes sei gesagt,

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