Schroders Schweigen
sogar mit dir, Laura, überkam mich wie eine Woge, und fast hätte ich das Gleichgewicht verloren. Ich schloss die Augen. Ich fühle , dachte ich. Ich ballte die Hände zu Fäusten und ließ sie wieder locker. Ich fühle . Ich bin lebendig .
Als ich die Augen wieder aufschlug, hatte die Frau ihren Blick auf mich geheftet.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie.
»Alles bestens«, sagte ich. »Ging mir noch nie besser.«
Entlang dem verwitterten Kai spazierten die Leute gemächlich dahin. Doch bei all dem Knarzen der hölzernen Promenade und der Ruder in den Dollen, dem Marktgeschrei und dem fernen Rauschen der Dampfschiffe wirkte die Menge gedämpft, ja ehrfürchtig. Die Welt wurde weicher, zugänglich.
»Frühling fühlt sich immer an wie ein Sieg«, fuhr ich fort. »Als hätte man irgendetwas Gutes getan, um ihn sich zu verdienen.«
»Das stimmt wirklich «, sagte die Frau. »Es war aber auch ein so eisiger Winter. Eisig und matschig und eklig.«
»Einer der schlimmsten. Zumindest in meiner persönlichen Geschichte. Aber« – ich sah sie an – »ich garantiere Ihnen, der Sommer wird außergewöhnlich.« Wieder lächelte sie, und zwei perlweiße Schneidezähne mit einer hübschen kleinen Zahnlücke kamen zum Vorschein.
»Wirklich? Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es einfach. Zuckerschnecke!«, rief ich Meadow zu. »Nicht so weit raus, ja? Auf dem Schild steht ›Baden verboten‹. Die haben hier noch keinen Bademeister.«
»Ich bade doch gar nicht, Papa«, rief sie, ohne sich umzudrehen. »Ich angle .«
Meine Freundin und ich tauschten einen vielsagenden Blick aus, dessen heimlicher Zweck darin bestand, unseren Augenkontakt zu legitimieren.
»Übernachten Sie und Ihre Tochter hier am See?«, fragte die Frau. »Es soll wunderschön werden am Wochenende, heißt es. Sehr warm für die Jahreszeit.«
»Nein«, sagte ich seufzend, »wir müssen uns wieder auf den Nachhauseweg machen. Wir haben eine lange Autofahrt vor uns.«
»Wo ist zu Hause?«
»Kanada.«
»Ach so. Sie sind Kanadier?« Wieder errötete die Frau, und ich konnte einen Hauch von Enttäuschung ausmachen, als hätte sie mich schon in ihr Herz geschlossen. »Ich denke immer, Kanadier müssten anders aussehen. Tun sie aber nie.«
»Es ist eher unser Akzent«, sagte ich. »Warten Sie nur, bis wir den Mund aufmachen.«
Die Frau lachte, tauchte ihren Fuß ins Wasser und bewegte ihn hin und her. »Und die Mutter des Mädchens? Ist sie zu Hause geblieben?«
»Ja.« Ich wandte mich zu ihr und sah sie an. »Meine Frau ist zu Hause. Sie wartet auf uns.« Aus dem Abseits schien der Mann meiner Freundin mich allmählich zu bemerken. »Sie ruft ständig an. ›Wie weit habt ihr’s noch? Wie viele Stunden noch?‹ Sie vermisst uns.«
»Ist doch klar«, sagte die Frau. Ich beobachtete ihr Gesicht, zartrosa beim Gedanken daran, an dieses Etwas , den universellen Traum, das geträumte Wir. Der Wind spielte mit dem Perlensaum ihres Seidensarongs. Sie zog ihren schlanken Fuß aus dem Sand, und der Sand machte ein krudes Sauggeräusch, und das Dampfschiff tutete in der Ferne, und endlich wandte ich den Blick von ihr ab und sah über den See hinweg in die Berge.
»Sagenhaft«, sagte ich überwältigt. »Wie das Licht auf den Bergen über dem See immer länger wird. Sehen Sie sich das an. Wie die Berge da drüben aussehen, als befänden sie sich in einer anderen Dimension. Was für ein Nachmittag. Wissen Sie was, Sie haben recht. Dieser Tag sollte niemals zu Ende gehen. Man müsste ihn wirklich behalten können. Wissen Sie was? Heute habe ich zum ersten Mal in diesem Jahr nicht das Gefühl, von einer Brücke springen zu wollen.« Ich sah meine Gefährtin an. Eine Brise wehte ihr das aprikosenfarbene Haar aus der Stirn, die in einfühlsame Falten gezogen war. »Ich weiß, Sie kennen mich ja gar nicht, aber ich bin froh, dass Sie hier sind. Will sagen, ich bin froh, dass Sie mit Ihrer Familie hier sind. Ihre Familie macht mich glücklich.«
»Ach so«, sagte sie.
»Ist doch gut, oder? Darum geht’s doch, oder? Zusammensein. So wie hier. Mit der Familie.«
Mit unsicherer Miene begegnete sie meinem Blick.
»Hey, Kollege«, donnerte der Ehemann. »Ihr Kind schwimmt in Klamotten.«
Wir alle sahen hin. Nicht allzu weit vom Ufer, aber mit großem Engagement war Meadow tatsächlich losgeschwommen, den Kopf steif über dem Wasser und mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Genau in dem Moment schob sich die Sonne wieder hinter der einsamen Wolke am
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