Schroders Schweigen
Tunnel graben oder im Taucheranzug durch die Spree hatten schwimmen müssen, um nach Westberlin zu gelangen, der ewige Traum meines Vaters? Stattdessen stellte man uns zwei Ausreisevisa aus und gab uns genau eine Stunde, um am Bahnhof Friedrichstraße zu sein. Mein Vater hatte sich seit Jahren um Visa für uns bemüht. Unsere Koffer – drei an der Zahl – verstaubten schon lange in der Kammer. Schließlich, nach Jahren der Ablehnung und Verzögerung, nach beruflichem Stillstand und nachbarlicher Ächtung, kam dieser amtliche Gesinnungswandel. Ein Wunder. Und ein Rätsel. 10
Wie auch immer es sich verhielt, der Gedanke, dass ich längst nicht alles über meine Mutter wusste, ließ mir keine Ruhe. Da ich sie mit fünf zum letzten Mal sah und zu jung war für Erklärungen, selbst wenn sie mir etwas hätte erklären wollen, hatte ich das Wort Ausreise aus ihrem Mund nie gehört. Aber sie wusste davon. Will sagen, sie war ja da . Sie brachte mich vor die Tür der Kindertagesstätte, wo wir von meinem Vater in Empfang genommen wurden, der mich gegen einen Umschlag eintauschte. Ich weiß nicht, was in dem Umschlag war. Schmiergeld? Ihr eigenes Ausreisevisum, für später, wenn es sicher wäre? Denn solange wir in Westberlin lebten, rechnete ich damit, dass sie nachkommen würde, was aber nie geschah. Ich denke, dass auch Papa damit rechnete. Wir erhielten eine Aufenthaltsgenehmigung für Westberlin, aber da wir nicht sozialhilfeberechtigt waren, wohnten wir orientierungslos und halb verarmt über der Garage der herrlich labilen Schwester meines Vaters.
Westberlin war voll mit Menschen, Künstlern, Homosexuellen, alten Leuten und Wehrdienstverweigerern. Mein im Grunde konservativer Vater war schockiert. Wie verwirrend es für ihn gewesen sein muss, die Propaganda der anderen Seite noch im Ohr, den warnenden Hinweis, dass die Mauer dem Schutz vor Staatsfeinden und Saboteuren diene. Doch ich erinnere das Leben in Westberlin als intim, surreal und ein wenig gefährlich. Papa war entweder auf der Arbeit oder auf der Suche nach Arbeit, die schwer zu finden war in so einer Stadt zu so einer Zeit. Meine Tante dagegen war zu Hause und pflegte ihre Verschrobenheiten. 11
Hin und wieder fuhren wir zusammen nach Kreuzberg, um uns unter die Türken zu mischen. Wenn Westberlin das größte Irrenhaus der Bundesrepublik war, dann war Kreuzberg, so sagte man, die Einzelzelle. Woher kamen diese vielen Menschen in ihren Kopftüchern und weiten Hosen, warum ließen sie im Viktoriapark ihre Ziegen grasen? Am Wochenende verwandelten die Türken das Ufer des Landwehrkanals streckenweise in einen riesigen Basar. Meine Tante und ich fanden es toll dort und verbrachten ganze Nachmittage an den Ständen, befühlten die Stoffe und Holzschnitzereien und unterhielten uns leise darüber. Ich machte ihr alles nach, das heißt, wir wirkten beide verrückt oder zumindest ausgehungert nach Eindrücken, und das stimmte auch, denn wenn man nach Kreuzberg fuhr, erkannte man, wie seltsam das restliche Westberlin war, nicht nur weniger farbenfroh und würzig, sondern insgesamt auf dem falschen Weg, ein Mischmasch, halb wiederaufgebaut, wobei man versucht hatte, die alten ausgebombten Kathedralen durch moderne Schachteln aus Stahl und Beton zu ersetzen, ein Vorhaben, das niemals gelingen konnte, weil zu viel Staub und Geschichte auf dieser Inselstadt lag, zu viel Ballast, der sie nach unten zog. Es erforderte eine ganz bestimmte Einstellung, um Gefallen zu finden an den architektonischen Dissonanzen Westberlins. Meine Tante hatte diese Einstellung. Sie teilte sie mit den Punks und Linken, die zusammen mit den Türken in Kreuzberg lebten. Sie nahm mich mit in den stillgelegten U-Bahnhof Bülowstraße, wo wir Döner aßen und auf die reglosen Drehkreuze starrten, während The Clash durch die Unterführung hallte. Das war mein Leben. Mein Inselleben.
Meine Tante hatte drei Söhne. Tag und Nacht spielte ich mit diesen Klein-Saboteuren. Ich erinnere mich an ein Überwachungsvakuum. Wie wir aus dem Fenster auf einen Haufen alter Matratzen gesprungen sind. Ein altes Holzfass, das bei einem Spiel mit wechselnden Opfern auf mich zurollte. Inzwischen war die Mauer, die in den Sackgassen bestimmter Straßen stumm vor sich hin stand, zur weltweit größten öffentlichen Spielwiese der Künstler geworden. 12
Wir warteten vier Jahre.
Zum Schluss konnte mein Vater es wohl nicht mehr ertragen. Inzwischen korrespondierte er mit allen möglichen potentiellen Gönnern in den
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