Schroders Schweigen
geworden ist. Wir waren uns sicher, dass sie am nächsten Morgen nur noch ein Häuflein Asche wäre. Ich erinnere mich an den schläfrigen Arzt, der selbst in wenigen Stunden am Frühstückstisch erwartet wurde, der zu uns am Telefon sagte, wir sollten uns bereithalten, sie ins Krankenhaus zu bringen, falls sich ihr Zustand verschlimmerte. Die ganze sture Nacht lang warteten wir darauf, dass es schlimmer wurde, ein Nachtlicht für unsere Wache. Und in den Winkeln unserer gedämpften Krankenbettgespräche lauerten die vielen kleinen Kinder, die sich in vergangenen Jahrhunderten in Nächten wie diesen auf Zehenspitzen an ihren Eltern vorbeigeschlichen hatten, die vielen kleinen unsichtbaren Seelen, die mit einem Lachen davongelaufen waren. Und doch war sie uns immer erhalten geblieben.
Es klopfte an der Tür.
»He, Papa.«
Ich blickte hoch und sah eine zierliche Frau mit slawisch wirkenden Gesichtszügen. Wir gaben uns die Hand. Ihre Knochen schienen hohl wie die eines Vogels.
»Frau Doktor«, sagte ich und erhob mich benommen, nicht ohne dabei den leeren Kaffeebecher umzuwerfen, den ich auf Meadows schwenkbarem Tablett abgestellt hatte. »Kommen Sie rein. Ich bin so froh, Sie zu sehen. Vielen, vielen Dank. Gott sei Dank waren Sie und Ihr Krankenhaus da.«
Die Ärztin setzte eine besorgte Miene auf. »Ich bin sehr, sehr froh, dass Sie den Weg hierher gefunden haben. Aber einiges ist uns nicht ganz klar.«
Stirnrunzelnd blickte die Ärztin auf ihr Krankenblatt, und dann setzten wir uns, die Ärztin auf eine Seite der schlafenden Meadow, ich auf die andere. Wir betrachteten beide einen Moment lang ihr friedliches Gesicht, und mein Blick zuckte zwischen ihrem und dem der Ärztin hin und her.
»Wir mussten Ihrer Tochter ein paar sehr starke Präparate geben, damit sich ihre Atmung normalisiert«, sagte die Ärztin. »Nicht nur intravenös – mit Magnesiumsulfat –, sondern auch noch Ketamin, ein dissoziatives Anästhetikum. Wir konnten damit nicht warten. Diese Medikamente verhindern den Atemstillstand, aber es sind ziemliche Klopper. Selbst für einen Hundert-Kilo-Erwachsenen. Wie überall, Papi, folgen auch wir hier einem Prinzip. In der Pädiatrie darf man nicht zu fest zupacken. Aber fest genug.«
»Verstehe«, sagte ich. »Gott, Sie sehen wahnsinnig jung aus für eine Ärztin.«
Die Ärztin lächelte, erneut mit bekümmertem Blick. »Gut«, fuhr sie fort. »Ich muss wissen, warum Sie sie nicht früher hergebracht haben.«
Ich hielt inne. »Früher?«
»Sie haben doch gesagt – als sie vorhin reinkamen –, dass ihre Tochter früher schon Asthmaanfälle hatte. Sie wissen doch – ich bin mir sicher, Sie wissen –, wie ernst ihre Krankheit ist? Dass jedes Jahr Tausende von Kindern an Asthmaanfällen ersticken?«
»Sie werden’s nicht glauben«, sagte ich. »Aber wir haben ihren Inhalator im Common verloren. In der Lagune . Heute.«
»Sie meinen gestern.«
»Gestern. Er ist ihr aus dem Rucksack gefallen. In die Lagune.«
»Meine Güte.«
»Um ehrlich zu sein, so einen schweren Anfall hat sie seit – hat sie noch nie gehabt. Zumindest habe ich so was noch nie erlebt.«
»Na ja, das liegt daran, dass sie einen Inhalator hat. Er ist lebensrettend. Und natürlich kann man ihn mal verlieren, das ist kein Verbrechen. Sie dürfen aber nicht damit warten, Hilfe zu holen. Sie müssen sofort Hilfe holen.«
»Ich verstehe«, sagte ich nickend. »Ich habe sie auf dem Gewissen.«
»Das wollte ich damit nicht sagen.«
»Aber ich habe sie auf dem Gewissen. Ich sage das.«
»Hören Sie. Ich habe auch Kinder. Ich habe auch schon Fehler gemacht. Ich verlange von niemandem Unmögliches. Aber Sie und ich haben Glück, weil wir noch eine Chance bekommen haben. Manche Kinder werden nicht wieder gesund. Manchmal richtet auch ärztliche Hilfe nichts mehr aus.«
Unwillkürlich warf ich einen Blick auf den schlafenden Jungen in dem anderen Bett.
»Das heißt, sie wird sich wieder erholen?«
»Ja, das wird sie. Aber erst mal muss sich ihr Zustand stabilisieren.«
In dem Moment gähnte Meadow.
»Da.« Ich lachte. »Wir langweilen sie.«
»Ha«, sagte die Ärztin. »Das ist ein sehr gutes Zeichen. Sie schläft noch, aber ihr Schlaf ist schon etwas leichter.«
»Heißt das, wir werden bald entlassen? Mich machen Krankenhäuser nämlich unglaublich nervös. Und ihre Mutter hätte sie wirklich gern so bald wie möglich zurück.«
»Wir werden sehen. Hauen Sie sich erst mal eine Runde aufs Ohr, Papi. Morgens ist hier
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