Schroders Schweigen
immer ein ziemlicher Rummel.«
Ich sah, wie Meadow zuckte und wie ihr Schlaf leichter wurde, und ich meinte, dass ein Ende in Sicht sei, und sagte zu mir: Ich werde nie wieder schlafen, ich werde nie wieder einschlafen , und trotzdem schlief ich irgendwie ein. Ich hatte einen ganz eindeutigen Traum. Ich ging davon. Ich ging den Storrow Drive hoch und in den Wald. Ich ließ das alles hier hinter mir. Ich entglitt meiner selbst. Ich wurde neu geschaffen. Niemand sah mich jemals wieder.
Das Quietschen diensteifriger Gummisohlen riss mich aus dem Schlaf. Jemand war ins Zimmer gekommen, während ich gedöst hatte. Ich hob meinen tonnenschweren Schädel und legte mir ein Lächeln zurecht. Und siehe da, es war mein Freund, der Polizist. Jetzt, bei Tageslicht, konnte ich ihn besser erkennen, mit seinem glänzenden, glattrasierten Gesicht. Er war ungefähr in meinem Alter. Als er ein paar unpoetische Kommentare losließ, erkannte ich den vertrauten näselnden Dorchester-Akzent, wie man ihn etwa, sagen wir, an der Ecke Dorchester Avenue und Victoria Street hören würde, und ich fragte mich, ob wir uns nicht vielleicht von früher kannten. Ich fragte mich, ob er jemand war, neben dem ich unter einer Marienstatue gesessen und gesalzene Sonnenblumenkerne geknabbert hatte. Jemand, der mich an seinen freistehenden Basketballkorb gelassen hatte, wenn sonst niemand dabei war. Jemand, mit dem ich rassistische Schimpfwörter ausgetauscht hatte (Du Scheißire! Du Nazi!). Jetzt sagte er, wie sehr es ihn freue, dass alles gutgegangen sei. Und ich dankte ihm, dass er meiner Tochter das Leben gerettet hatte. Und ich meinte es ernst. Denn ich dachte, ja, ich bekomme eine zweite Chance, es ist nicht zu spät, und heute – heute – werde ich das alte Haus in der Savin Hill Road aufsuchen, und ich werde diese durchgetretene Treppe hochgehen und meinen Vater sehen und ihm seine Enkelin zeigen, und irgendetwas wird wieder ins Lot kommen, irgendetwas wird heute zum Abschluss gebracht werden …
»Können wir mal eben raus in den Flur?«, fragte der Polizist.
»Klar«, sagte ich, ohne mich zu rühren. »Ist alles in Ordnung?«
»Ich muss nur meinen Bericht schreiben.«
»Klar.« Ich lächelte ihn an und versuchte seine Miene zu deuten. Sie war aufrichtig und zugleich undurchdringlich.
»Ich will nicht sagen, dass es hier Probleme gibt«, stellte er klar. »Ich will nicht sagen, dass Sie irgendwas falsch gemacht haben. Das ist bloß der dienstliche Ablauf.«
»Na ja, sicher.« Jetzt stand ich auf. »Alles klar.«
Eine Schwester in Pastellrosa kam mit einem Tablett Apfelsaft und Kräckern an die Tür und warf Meadow einen prüfenden Blick zu. »Na, sind wir schon wach?«
»Noch nicht«, sagte ich. »Ist das normal?«
Sie nahm meinen Platz neben dem Bett ein.
»Das wird schon«, sagte die Schwester. Rasch sah sie die Seiten auf dem Klemmbrett am Fußende des Bettes durch. »Sie wird bald aufwachen. Ich muss jetzt nur mal eben ihre Vitalfunktionen prüfen.«
Ich verließ den Raum mit einer Vorahnung, die mich selbst überraschte.
Der Polizist und ich traten auf den Flur. Ich erklärte es ihm folgendermaßen: Meine Tochter und ich hätten gestern, am Samstag, morgens den Bus von Conway nach Boston genommen, um zusammen einen kleinen Ausflug zu machen, nur wir beide, Vater und Tochter, um uns die Stadt anzusehen (die Schwanenboote, geröstete Cashews, den Kronleuchter im Copley Plaza und so weiter), aus Versehen sei ihr Inhalator in die Lagune gefallen, und vielleicht hätten die Pferde, die sie gestreichelt hatte, das Asthma ausgelöst. Aber nachdem er ein paar Minuten in ungeschickter Linkshänderschrift Notizen für seinen Bericht gemacht hatte, merkte ich, dass er aufgehört hatte zu schreiben und mir mit einer Art gespannter Neugier lauschte. Er fragte nach der Mutter des Mädchens, und ich sagte, sie sei mit unserer anderen Kleinen zu Hause in Conway und warte auf unsere Entlassung. Die Sache hätte uns beiden einen ziemlichen Schrecken eingejagt, sagte ich zu ihm, aber wir wüssten, dass Mass General zu den besten Kliniken der Welt zählt, und wir würden ganz bestimmt nie wieder ohne Inhalator das Haus verlassen. Dann fragte er schließlich nach meinem Namen, und ich streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »John Torrain.« Wir gaben uns die Hand. »Und Ihre Tochter heißt?« »Jessie. Jessie. Eigentlich Jessica. Aber sie mag es nicht, wenn man sie Jessica nennt«, fügte ich hinzu. Dann sagte der Polizist, er sei fertig, nur
Weitere Kostenlose Bücher