Schroders Schweigen
festgestellt, dass Sie jemand ganz anderes sind, als Sie immer behauptet haben. Ihre gesamte Identität – Ihre Vergangenheit, alles – nichts ist so, wie Sie behauptet haben. Sogar ihr Nachname, der Ehename Ihrer Frau, ist eine Erfindung.«
Habe ich mir auch schon alles überlegt, will ich zu ihm sagen.
(Quacksalber! Bauernfänger! Schwindler! Falschspieler!)
»Hinzu kommt allerdings, dass sie behaupten könnte – und ich habe noch keine eigenen Kinder, Mr Kennedy, ich bin da völlig unvoreingenommen –, sie könnte behaupten, Sie hätten Ihre Tochter ernsthaft in Gefahr gebracht, was das Strafmaß deutlich erhöhen würde. Sie sind in der Notaufnahme gelandet. Das Leben Ihrer Tochter war in Gefahr. Das könnte man so oder so sehen, beim Prozess. Es könnten medizinische Gutachter hinzugezogen werden –«
Unmut blitzt in den Augen des jungen Mannes auf.
»Könnten Sie vielleicht nicken oder irgendetwas, Mr Schroder, wenn Sie mir folgen können?«
Ich sage nichts. Ich nicke nicht.
»Sie haben keine Lust zu reden«, sagt er. »Auch gut.«
Er nimmt einen gelben Schreibblock und einen Stift zur Hand. Er schiebt mir beides über den Tisch.
»Dann schreiben Sie’s auf«, sagt er. »Schreiben Sie’s auf. Von Anfang bis Ende.«
Ich schaue ihn unverwandt an.
»Wissen Sie, gestern Abend habe ich über diesen Fall nachgedacht, und – um ehrlich zu sein, es ist einer meiner ersten, und ich bin eigentlich nur hier, um Sie wegen Ihrer Auslieferung zu beraten. Aber es ist eine spannende Geschichte. Sie will mir gar nicht mehr aus dem Kopf. Ich dachte, wenn ich die Frau dieses Mannes wäre und wenn ich ihn mal geliebt hätte und wenn ich im Grunde nie den Verdacht gehabt hätte, dass er ein anderer ist als der, der er zu sein vorgab, was würde ich jetzt von ihm hören wollen?« Mein Verteidiger lehnt sich in seinem Stuhl zurück, schlägt nun, da er ganz klar verloren hat, entspannt die Beine übereinander und breitet mit einer entwaffnenden Geste der Verwunderung die Hände aus. Weil ich so still gewesen bin, denkt er vielleicht, dass er in meiner Gegenwart Selbstgespräche führt. »Würde ich wollen, dass er mich um Verzeihung bittet? Ja. Würde ich wollen, dass er mir erzählt, wer er wirklich ist und warum er mich belogen hat? Ja. Aber vor allem würde ich alles wissen wollen über die Tage, in denen ich von meiner Tochter getrennt war. Alles. Ich würde wissen wollen, welche Route sie genommen haben, wie das Wetter war, was sie gegessen hat, mit wem sie sich unterhalten hat, ob sie Spaß hatte oder nicht. Ob sie sich die Zähne geputzt hat oder nicht. Ob jemand ihr wehgetan hat. Ob sie geweint hat, ob sie gelacht hat.« Da es kein Fenster gibt, blickt er zur Deckenbelüftung hinauf. »Denn die Unwissenheit ist das Schlimmste, oder? Die Unwissenheit ist das, was uns so aufreibt.«
Einen Moment lang sagt keiner von uns beiden ein Wort. Mein Verteidiger scheint mich vergessen zu haben und kippelt mit seinem Stuhl wie ein kleiner Junge.
»Danach«, sagt er, »wenn ich alles erfahren hätte, würde ich vielleicht wieder an Sie denken können. Als an jemanden, den ich mal gekannt habe. Ich könnte vielleicht ein wenig Mitgefühl mit Ihnen aufbringen. Vielleicht Ihre Entschuldigung annehmen, unter der Voraussetzung, dass –«
Der junge Mann verstummt mitten im Satz. Endlich lächelt er. Ich habe den Notizblock rasch zu mir herangezogen und den Stift zur Hand genommen.
Ich fange an zu schreiben.
Was folgt, ist ein Bericht darüber, wo Meadow und ich seit unserem Verschwinden gewesen sind.
Wie sich herausstellt, ist es eine lange Geschichte.
Ich weiß noch nicht, wie sie endet. Aber sie beginnt mit der Liebe.
DU UND ICH UND DIE WINTERMORGEN
Im ersten Trimester deiner Schwangerschaft wolltest du nichts als Nektarinen. In deinem dritten Trimester hattest du plötzlich Appetit auf schlechte Filme aus den Achtzigern mit zweitklassigen Schauspielern wie Kurt Russell. Kaum warst du schwanger, veränderte sich deine gesamte Persönlichkeit. Der Trotz wich aus deinen Augen, das Schneidende aus deiner Stimme. Ich liebte dich als Schwangere. Die schwangere Laura war trotz ihres schlechten Geschmacks ein langsameres, liebenswerteres Wesen. Deine Müdigkeit machte dich kuschlig. Deine Masse zwang dich, Hilfe anzunehmen. Nachdem du aus dem Schein deiner kalten Selbstbeobachtung herausgetreten warst, wurdest du regelrecht freundlich, und endlich war ich es mal, der auf dich warten musste, wenn du dich in Gespräche mit
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