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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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deshalb peinlich, weil sie die Stille verseuchten, die zu studieren er eigens angereist war, sondern weil sie so kindisch waren. Irgendwann packte mein Freund seine Sachen und machte sich auf den Heimweg. Er hatte etwas gelernt. Er wusste zwar nicht was, aber es ging ihm besser.
    Ich glaube, er hat gelernt, dass er immer ein trauriger Mensch sein würde.
    Ein Mann kommt in den Raum, in dem ich sitze, und sagt: »Ihr Vater ist tot.«
    »Schwachsinn«, sage ich.
    »Er ist vor drei Jahren gestorben. Hier ist die Sterbeurkunde. Otto Schroder. Das ist doch Ihr Vater?«
    Der Raum, in dem ich sitze, ist trübe, es fällt kein Licht von draußen hinein. Ich beuge mich über das Blatt, das er mir hinüberschiebt, ohne es zu berühren, obwohl mir schon vor Stunden die Handschellen abgenommen wurden.
    »Nein«, sage ich.
    »Nein? Das ist nicht Ihr Vater?«
    Ich starre auf den Zettel.
    »Nein«, wiederhole ich.
    Der Mann sitzt mir gegenüber. »Wissen Sie eigentlich, dass in drei Staaten Haftbefehl gegen Sie erlassen wurde? New York, Vermont, New Hampshire. Je nach Gesetzeslage könnte man Sie wegen Kindesentführung anklagen. Die Höchststrafe dafür sind fünfundzwanzig Jahre.«
    Ich schweige. Auf einmal dreht sich alles.
    Seit geraumer Zeit sitze ich ziemlich reglos in einem Haftraum irgendwo im Keller des Nashua Street Jail, ohne Wasser, ohne Essen, ohne menschlichen Kontakt. Als sie mich in dieses Gebäude brachten, wurde ich mit einem regelrechten Trauerzug in den Raum geleitet, einer Menge Leute. Dieser ergrauende Mann befand sich nicht darunter.
    »Wer sind Sie überhaupt?«, frage ich.
    »Lieutenant Stavros. Und wer sind Sie ?«
    »Was ist das für ein Name, Stavros?«
    »Griechisch. Und Schroder?«
    »Deutsch«, sage ich. »Ich bin Deutscher. Ausländer mit Aufenthaltsstatus. Mein Geständnis ist doch an diesem Punkt nur noch eine Art Formalität, oder nicht? Sie haben doch meinen Pass, oder?«
    »Erzählen Sie mir von Erik Schroder. Erzählen Sie, warum Sie vor ihm weglaufen.«
    »Klar.« Ich zucke mit den Achseln. »Ich erzähle Ihnen alles.«
    »Was?« Der Mann wirkt, als hätte ich ihn überrumpelt.
    »Ich erzähle Ihnen, was immer Sie wissen wollen.«
    »Okay. Aber könnten Sie einen Moment warten? Ich muss ein paar Leute holen.«
    »Klar. Nur zu.«
    Der Mann erhebt sich. »Tut mir leid wegen Ihres Vaters«, sagt er. »Soll ich Ihnen den Seelsorger holen? Wir haben hier einen sehr guten.«
    »Wozu das denn? Mir geht’s bestens. Ich glaube nicht, dass die Urkunde echt ist.«
    Der Mann wirkt verdutzt. »Nein?«
    »Nein. Das ist doch irgendein Trick. Psychofolter. Ich verlange eine Echtheitsbescheinigung von einer unabhängigen Instanz. Und«, sage ich mit erhobenem Zeigefinger, »ich will mit meiner Tochter sprechen.«
    Der Mann zögert einen Moment.
    »Ist das Ihr Ernst?«, fragt er.
    »Ja, das ist mein Ernst.«
    Er sieht mich genau an. »Ich muss ehrlich mit Ihnen sein. Es wird verdammt viel Zeit ins Land gehen, bevor es dazu kommt. Ihre Tochter war das Opfer einer Straftat, die Sie begangen haben.«
    »So sehe ich das nicht.«
    »Wie Sie das sehen, spielt keine Rolle.«
    »Ich bin ihr Vater . «
    »Sie sitzen in Haft. Da gelten andere Rechte als diejenigen, die Sie gestern noch hatten, als freier Mensch.«
    Ich mache mich so groß wie möglich.
    »Dann möchte ich einen Anwalt sprechen«, sage ich. »Einen guten. Ihren besten.«
    Der Mann seufzt und wendet sich zur Tür.
    Er geht.
    Es dauert sehr, sehr lange, bis er wiederkommt.
    DAS SCHWEIGEN DES TRAUERNDEN
    Ist dir der Name Bob Kaufman ein Begriff? Kaufman war ein weitgehend unbekannter Dichter. Er legte ein legendäres Schweigegelübde ab, das zehn Jahre andauerte.
    Als Kind einer katholischen Afroamerikanerin und eines jüdisch-orthodoxen Deutschen lebte Bob Kaufman in den fünfziger und sechziger Jahren ein revolutionäres Leben als Drogenkonsument und Beatnik in San Francisco. Obwohl seine Biographie vor unerklärlichen Brüchen und Lücken nur so strotzt, kennt man ihn als Autor von Solitudes Crowded with Loneliness oder auch als Verfasser des Abomunist Manifesto . Ständig schrieb oder rezitierte er an den unwahrscheinlichsten Orten Gedichte. Auf Häuserdächern. An Straßenecken. Am Tag, als Präsident Kennedy erschossen wurde, legte Bob Kaufman sein Schweigegelübde ab. Zehn Jahre lang sprach er mit niemandem. Er trug keine Gedichte vor. Niemand weiß, wo zum Teufel er überhaupt gesteckt hat.
    Am Tag, als der Vietnamkrieg endete, ging Bob Kaufman in

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