Schroders Schweigen
beim Sichten moderiger Bände und obsolet gewordener Wissensfelder stieß.
Wer wissenschaftlich arbeitet, ist immer ein Suchender . Er weiß nie so recht, wonach er sucht oder warum. Auch nachdem ich eingesehen hatte, dass mein Projekt im Wesentlichen von Dilettantismus zeugte, hörte ich nicht auf, mit echter Verwunderung über das Thema zu sinnieren. Anfangs glaubte ich noch, das Schweigen sei etwas Generisches. Doch schon bald erkannte ich, dass es genau umgekehrt war. Laute waren generisch. Laute waren offensichtlich. Das Schweigen indes. Es hatte so viele Gesichter. Prinzipielles Schweigen. Praktisches Schweigen. Notwendiges Schweigen. Rituelles Schweigen. Religiöses Schweigen. Das durch unsagbares Leid ausgelöste Schweigen.
Lass mich ausholen:
PRINZIPIELLES SCHWEIGEN
Pythagoras selbst war kein schweigsamer Mensch, aber damals im alten Griechenland lehrte er eine Legion von jungen Männern strengstes Schweigen. Seine Schüler nannte er »Zuhörer«. Fünf lange Jahre mussten sich die Schüler des Pythagoras in völligem Schweigen üben. Die Lehrer stellten ihnen Fragen, auf die sie nicht antworten durften, und diese Fragen klapperten fünf Jahre lang in ihren Köpfen herum, und als die Schweigezeit vorbei war, kann man sich vorstellen, dass sie ein paar knackige Antworten parat hatten. Die Absolventen stellten natürlich fest, dass sie kaum mehr ein vernünftiges Gespräch zustande brachten. Die Menschen wollten von den Zuhörern erfahren, was sie durch das fünfjährige Schweigen gelernt hatten. Aber reines Schweigen war im Grunde nicht vermittelbar – ganz so, als wollte man ein Päckchen Licht mit der Post schicken. Obendrein: Warum hätte es eine Abkürzung geben sollen? Wer verstehen will, kann ja einfach selbst ein halbes Jahrzehnt den Mund halten, oder? Bald galt unter Pythagoräern die Vorschrift, dass es unrechtgemäß ist, jenes Wissen weiterzugeben, das durch derlei Mühe und Beharrlichkeit erlangt wurde .
Wem sagst du das.
DAS SCHWEIGEN DER ANGST
Im Gulag musste eine geniale Frau mittleren Alters, eine ehemalige Musiklehrerin an einem renommierten baltischen Konservatorium, zehn Jahre Zwangsarbeit leisten wegen irgendeines Verstoßes gegen die kommunistische Partei, der ihr nie offiziell zur Last gelegt wurde, dessen sie aber angeblich definitiv schuldig war. Irgendeine Art von Gedankenverbrechen, eine Manifestation ihrer Wut. Nachdem sie den ganzen Tag mit einem mittelgroßen Stein große Steine zu kleinen Steinen zerschlagen hatte, brachte die Frau ihre Freizeit in den Baracken mit ihrem Lieblingsprojekt zu – dem Bau eines lautlosen Klaviers. Den Korpus des Klaviers baute sie aus einer alten Holzkiste eines früheren Insassen. Monatelang tüftelte sie an den einzelnen Tasten, indem sie dünne Bretter und Holzspatel zurechtfeilte. Der Kasten war solide, ebenso wie die schwarzen und weißen Tasten wie bei einem echten Klavier auf Druck reagierten. Bloß brachte das Instrument keinen Klang hervor. Oder zumindest anfangs nicht. Und dann vermochte sie eines Tages die gesamten Händel-Variationen zu spielen. Sie erkannte, dass sie die Fähigkeit entwickelt hatte, lautlose Musik zu spielen. Und noch lange nach ihrer Entlassung bezeichnete sie sich trotz ihres entbehrungsreichen Lebens zur großen Verblüffung anderer als »glücklich«.
DAS SCHWEIGEN DER EINSAMKEIT
Eremiten fallen in diese Kategorie, wobei man ihr Schweigen auch prinzipiell, praktisch oder rituell nennen könnte. Dazu eine persönliche Anekdote: Nach einer langen depressiven Phase beschloss mein Freund – der Kumpel aus Loudonville, dessen Mini ich geklaut hatte – vor einigen Jahren, eine Zeitlang allein in der Wüste zu leben, um zu sehen, ob es ihm helfen würde. Kurz davor hatte er beide Eltern verloren, seine Freundin hatte ihn verlassen, und es lief schlichtweg alles andere als rund. Abgesehen davon, dass er schon als trauriger Mensch zur Welt gekommen war. Also ging er in die Wüste. Er nahm ein Zelt mit, viele Bücher und genug zu essen und zu trinken. Tagsüber saß er da und lauschte der Stille. Dass es still sein würde in der Wüste, damit hatte er gerechnet. Aber er war verblüfft, wie schnell diese Stille an ihm zu nagen begann. Er hatte das Gefühl, der Gleichgültigkeit des Kosmos ausgeliefert zu sein. Und so begann er zu seinem eigenen Leidwesen, sich kleine Lieder auszudenken, zum Beispiel »Mein großer Zeh gefällt dir nicht« oder »Einer nutzt heimlich Geräte von mir«. Die Lieder waren ihm nicht
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