Schröders Verdacht - Der Italien-Thriller (German Edition)
ihrem Vater losreißen und zu ihrer Mutter zurück. Ihr Vater blickte sie verbissen an und schlug sie in ihr zartes Gesicht, bis sie vor Furcht winselte. Ihr Schmerz wegen der Trennung von der Mutter war schließlich von der Angst vor ihrem Vater übermannt worden, und sie hatte das Flugzeug bestiegen.
Für sie begannen damit die schrecklichsten Tage ihres Kinderlebens. Kurze Zeit später starb ihre Mutter, die sie nicht wieder gesehen hatte. Ihrem Vater hatte sie nie verziehen und ein Flugzeug nie wieder betreten. In der Folge war ihr Vater immer mehr überfordert gewesen, seine Tochter zu erziehen. Er hatte Giovanna im Alter von neun Jahren in ein Kinderheim für Schwererziehbare gesteckt. Sie schlief mit neunundzwanzig anderen Mädchen in einem Saal, niemand besaß etwas Eigenes. Die Erzieherinnen schlugen die Kinder, wenn sie nach neun Uhr abends beim Lesen erwischt wurden. Fast jeden Abend kroch sie in das Bett eines anderen Mädchens und holte sich in der Trostlosigkeit ihre Zuwendung.
Ihr Vater kam nur selten zu Besuch. Wenn er da war, redeten sie kaum miteinander. Er brachte ihr Schokolade mit, die sie gleich abgeben musste. Obwohl sie es ihrem Vater mehrmals gesagt hatte, dass man ihr alles wegnahm, tat er nichts, es zu verhindern. Ihr Bild des Vaters wandelte sich allmählich in das eines Schwächlings. Seine Besuche empfand sie zunehmend als lästig. Sie zog sich völlig von ihm zurück und hatte nie die Gelegenheit erhalten, ihm ihre Meinung ins Gesicht zu schreien. Als sie sechzehn war, kam er bei einem Autounfall ums Leben.
Giovanna schwitzte am ganzen Körper. Sie musste an ihre Mutter denken, die sie als Kind stets liebevoll gepflegt hatte, wenn sie vom Fieber geschüttelt und schweißnass im Bett gelegen hatte. Stundenlang hatte sie neben ihr gesessen, ihr die Stirn getrocknet, sie geküsst, ihr Tee gekocht und den Kopf gehalten, wenn sie schwer atmend getrunken hatte.
Das Rattern der Räder holte sie aus ihren Gedanken zurück. Sie sah aus dem Fenster und fragte sich, wo dieser Schröder stecken würde. War er schon in Milazzo? Hatte er irgendwo Zwischenaufenthalt gemacht? Sie musste ihn möglichst bald finden.
"Fahrscheinkontrolle, bitte!", sagte eine leblose Stimme. In der Tür des Abteils stand ein hochgewachsener junger Bahnschaffner, der jetzt, als er Giovanna sah, seine Mütze lässig nach hinten schob. Sie reichte ihm die Tickets für ihre Fahrt und lächelte ihn an.
"Ah, Sie fahren nach Messina. Schön. Haben Sie in Messina geschäftlich zu tun?", fragte er freundlich.
"Oh ja, kennen Sie Messina gut?", fragte sie mit Honig in der Stimme und strich ihren engen Rock glatt.
Der Schaffner starrte auf ihre Beine, hob dann seinen Blick und antwortete: "Wissen sie, dort bin ich geboren. Ich lebe schon seit langem nicht mehr dort. Aber wenn Sie eine Auskunft brauchen, ich kann es ja versuchen!"
"Ich bin auf der Suche nach einem Geschäftsfreund meines Chefs. Er ist unterwegs nach Milazzo. Er ist, so glaube ich, gestern gefahren. In unserer Firma ist was schief gelaufen, und ich muss ihn dringend finden. Mein Chef hat mich extra persönlich geschickt. Wie stelle ich das wohl am besten an?"
Der Schaffner konnte das Starren auf Giovannas Beine kaum verbergen. Er bot ihr nur zu gerne seine Hilfe an. "Wissen Sie, wie der Mann aussieht, können Sie ihn beschreiben? Ist er mit dem Zug gefahren?"
"Ja, beschreiben kann ich ihn. Und Zug gefahren ist er bestimmt. Von Mailand weg. Aber was hilft mir das?"
"Sehen Sie, seit gestern waren nicht viele Züge auf dieser Strecke. Wer von Mailand nach Sizilien fährt, den merkt sich ein guter Schaffner. Um ihn nicht dauernd nach dem Fahrschein zu fragen. Geben sie mir seine Beschreibung. Ich werde dann versuchen, meine Kollegen anzurufen, die gestern diesen Dienst hatten. Vielleicht haben wir Glück."
"Das würden Sie für mich tun? Sie sind wirklich sehr liebenswürdig!" Giovanna gab dem Schaffner die Personenbeschreibung Schröders.
"Ein Deutscher, das macht die Suche einfacher. Davon gibt es mit Sicherheit zurzeit nicht viele, die nach Sizilien fahren. Sobald ich soweit bin, gebe ich Ihnen Bescheid, Signorina …"
"Save, Gabriela Save!", log Giovanna mit hauchender Stimme.
Der Schaffner verließ das Abteil. Bevor er die Schiebetür schloss, lächelte er sie noch einmal an und tippte mit dem Zeigefinger gegen den Schirm seiner Mütze. Als er verschwunden war, fiel ihr Lächeln zusammen und ihre Züge nahmen die gewohnt Kälte an.
*
Saltini stand vor
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