Schroedingers Schlafzimmer
eigentlich nicht. Aber die Leute vor viertausend Jahren mußten’s ja auch irgendwie kapieren, daher das mythologische Drumherum. E … V … N …«
|57| »A … Sie wollen Eva wieder auferstehen lassen?«
»Nicht ganz. Wissen Sie, Evas Geschichte ist ja irgendwie dünn. Sie läßt sich von der Schlange beschwatzen, diesen Apfel zu essen, zieht Adam mit in den Schlamassel hinein, und das war’s dann auch schon. Ansonsten erfährt man bei Moses nur noch, daß Adam sie ein paarmal schwängert. Aber auch als Mutter agiert sie ziemlich glücklos, kein gutes pädagogisches Händchen. Die Söhne hassen sich – Gott, wir wissen doch heute, daß Gewaltkarrieren in der Familie beginnen … Nein, mir schwebt etwas anderes vor …« Schrödinger senkte die Stimme, obgleich niemand im Laden war und die Straße immer noch wie ausgestorben dalag. »Ich möchte gleich
drei
berühmte Frauen in die Wirklichkeit zurückrufen. Oliver, ich setze jetzt ganz auf Ihre tiefe Verschwiegenheit, also, hier sind sie: Ich denke an Salome, Tullia d’Aragona und Mata Hari! Was meinen Sie dazu?«
»Hm, interessant … Rechts hätten wir es: 1,5 und 3,5 – gar nicht ohne … Es gibt übrigens eine Menge Salome-Darstellungen. Caravaggio hat sie gleich zweimal gemalt.« Oliver deckte das rechte Auge des Zauberers ab. »Bitte, Sie können wieder loslegen.«
»B, S, K, W, L … – Ich sehe, Sie sind nicht nur ein begnadeter Zeichner, Oliver, sondern auch kunsthistorisch bewandert. Aber wußten Sie, daß Salomes berühmter Tanz der sieben Schleier in Wahrheit ein religiöses Ritual war? Ist das nicht sensationell! Während
wir
das verführerische Entkleiden junger Frauen in schmuddelige Rotlichtbezirke verbannt haben und die Priesterinnen auf den Bühnen verächtlich Stripperinnen nennen, haben andere |58| Epochen im gekonnten Entkleiden eine heilige Handlung gesehen. Salome war Prinzessin, Tempeltänzerin und Prostituierte in einem – vor zweitausend Jahren hat man da nicht den geringsten Widerspruch gesehen. Die mächtige Göttin und Zauberin Isis trug sieben Gewänder, die den sieben Sphären des weltlichen Seins entsprachen. Und indem sie diese ablegt, wird am Ende das Wahre unserer nackten menschlichen Existenz offenbar! Aber die verlogene Lüsternheit des patriarchalischen Regimes, das die Kirche in den vergangenen zweitausend Jahren errichtet hat, ließ das mythisch-existentialistische Entblößen zum billigen Striptease, zum pornografischen Vorspann verkommen. Furchtbar. Ich sage Ihnen, Salome wußte genau, was sie tat, als sie den Kopf von Johannes dem Täufer als Preis für ihren Tanz verlangte. Sie war eine Priesterin und
Seherin
: Sie wußte, was kommen würde, und Johannes hat den Preis bezahlt für das, was die Kirche und
wir Männer
den Frauen im nachhinein angetan haben. Q … E … D … nein … O … sonderbar.«
Der Eindruck, der sich aus dieser Rede zusammen mit der klobigen, einäugig abgedeckten Testbrille ergab, war der eines gelinden Wahnsinns. Oliver war froh, sich an die klare Prozedur der Sehstärkenvermessung halten zu können.
»Kommen wir zu Tullia d’Aragona«, faselte der Magier unterdessen munter weiter. »Ja, die Renaissance! Gewiß die letzte Epoche der europäischen Geschichte, in der zu leben sich gelohnt hätte. Tullia d’Aragona war eine der berühmtesten Kurtisanen ihrer Zeit und zugleich eine Philosophin vom Range Platons oder Augustinus ’! Man stelle |59| sich dies
heutzutage
vor – es wäre ganz und gar unmöglich! Ihr Vater war vermutlich der Erzbischof und Kardinal Pietro Tagliavia von Aragon. Und zu denen, die in Tullias Haus ein- und ausgingen, gehörten Kardinal Hippolyt de Medici, Ercole Bentivoglio, Filippo Strozzi, Lattanzio Benucci. Was für Namen, was für eine Zeit!… Nein, jetzt ist das Bild schlechter geworden, ja so ist wieder es besser … In ihrem berühmten Dialog ›Über die Unendlichkeit der Liebe ‹ – einem philosophischen Meilenstein, Oliver!– unterscheidet Tullia zwei Arten der Liebe, die sinnliche und die geistige, und das Erstaunliche ist, daß ausgerechnet sie, die Kurtisane, der geistigen den höheren Wert beimißt, wobei sie allerdings – darin weit über Platon hinausgehend! – auch den Frauen die gleichberechtigte Teilhabe an der geistigen Liebe zugesteht. Aber davon wollten die Männer natürlich nichts hören, bis heute, logisch. Für uns Hengste sind Frauen ja nichts als zu vögelnde Stuten, die uns
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