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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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ansonsten in Ruhe lassen sollen. Es ist wirklich ein Jammer. Und so konnte auch der Stern Tullias in unserer abendländischen Gesellschaft nicht wirklich aufgehen: Sie starb 1556 verarmt als Prostituierte.«
    Das ununterbrochene Gerede des Zauberers ließ Oliver inzwischen argwöhnen, er könne auf eine bestimmte Weise tatsächlich verrückt sein. Es gab so eine Art von Verrücktheit auf den zweiten Blick: Man glaubte, es mit normalen Zeitgenossen zu tun zu haben, und auf einmal, ohne daß man den Übergang so recht bemerkte, begannen sie, einem von Außerirdischen zu erzählen oder davon, daß die Mondlandung eine gigantische, von der CIA inszenierte Täuschung der Menschheit gewesen sei. Schrödingers |60| Sermon über die patriarchalische Reorganisation von Religion und Gesellschaft roch stark nach dem üblichen Verschwörungsgerede.
    »Kommen wir abschließend zu Mata Hari«, fuhr er enthusiastisch fort und buchstabierte schnell: »M   … H   … C   … I   … A   … Welche Frau, so frage ich Sie zunächst, konnte sich denn hier in Europa zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, nach zweitausend Jahren chauvinistischer Diktatur, sexuell noch frei entfalten? Nein, das war vollkommen unmöglich. Aber Mata Hari, eigentlich Margaretha Geertruida Zelle, eine Holländerin, hat an der Seite ihres ersten Mannes Gott sei Dank für eine Weile in Indonesien gelebt. In der Südsee haben sich weibliche Weisheit und die Natürlichkeit der Sexualität ja trotz der intensiven Bemühungen eines Heers von Missionaren, die sich für die Etablierung bestimmter Fortpflanzungsstellungen und sittlicher Verhaltensweisen abgerackert haben, noch erstaunlich lange gehalten. Das war Margarethas Glück! Sie ließ sich scheiden und ging 1905 nach Paris, wo sie unter dem Künstlernamen Mata Hari, was ›Auge der Morgenröte ‹ bedeutet, mit Schleiertänzen zu Ehren der Göttin Shiva die Tradition der rituellen Entkleidung wieder aufleben ließ. Das Publikum lag ihr zu Füßen, aber naturgemäß nicht aus religiöser Ehrfurcht, sondern aus purer Geilheit, was Mata Hari aber vollkommen durchschaute. Sie verführte den deutschen Außenminister, den holländischen Premier, den französischen Kriegsminister und noch eine Reihe weiterer Größen des politischen Establishments, das Europa in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs geführt hat. Vielleicht hat sie ja gehofft, diesen |61| sturköpfigen Militaristen auf ihre Weise die Augen zu öffnen, aber umsonst natürlich. Der französische Geheimdienst verhaftete sie wegen Spionage für die Deutschen, und im Oktober 1917 wurde sie im Festungsgraben von Vincennes hingerichtet. Es heißt aber, sie habe vor dem Hinrichtungskommando ihren Pelzmantel aufgeschlagen, unter dem sie nichts trug, und die Soldaten hätten alle daneben geschossen. Anschließend soll sie mit einem russischen Offizier zu Pferd in den Morgennebel entschwunden sein. Aber ich befürchte, das ist nicht mehr als eine fromme Legende. Zweitausend Jahre patriarchalischer Gehirnwäsche hat die Empfindungen der Männer verwahrlosen lassen, der Erste Weltkrieg ist ja der beste Beweis dafür. Ich befürchte, diese abgestumpften Bajonett-Trottel haben einfach abgedrückt: Peng – und wieder war eine von diesen starken Frauen weg, die unsere Weltsicht durcheinander würfeln.«
    »Jetzt dürfte es eigentlich nicht mehr besser werden«, sagte Oliver und nahm dem Magier die Testbrille ab. Dessen Augen brauchten eine Sekunde, um sich wieder auf die alten, unkorrigierten Schärfenverhältnisse einzustellen.
    Er sagte: »Oliver, ich vertraue Ihnen. Ich spüre eine innere Verwandtschaft zwischen uns beiden. Haben wir denn nicht sogar vergleichbare Berufe? Wir tüfteln an dem herum, was die Menschen sehen. Hören Sie zu, Oliver: Am Beispiel einer Katze in einem geschlossenen Kasten hat mein Großvater nachgewiesen, daß es eine eindeutige Grenzziehung zwischen Leben und Tod nicht gibt! Wenn Sie wollen, erkläre ich Ihnen das mal bei Gelegenheit, das ist eine heiße Sache. Seine Gedanken bringen vernagelte |62| Deterministen bis heute gehörig ins Schwitzen. Der Punkt ist nämlich: Auch das Universum ist so eine Art Kasten mit uns als Zuschauern. Tja, und jetzt frage ich Sie: Was ist denn so ein Kasten mit Zuschauern anders als ein Theater? Wir sitzen sozusagen im Parkett der Wirklichkeit. Solange wir die Türen nicht öffnen – und seit wann können wir die Türen des Universums aufmachen? – ist
alles
möglich. Leben und Tod sind

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