Schroedingers Schlafzimmer
gut verdient. Und das war nicht leicht für ihn, das gebe ich zu. Es ist ein Jammer zu sehen, was aus ihm geworden ist. Die Depressionen lähmen ihn, aber er weigert sich, seine Medikamente zu nehmen. Er sitzt von morgens bis abends vor dem Fernseher, und alles um ihn herum verkommt. Du solltest seine Wohnung sehen, Dori! Es ist erschütternd. Ich sehe ab und an nach dem rechten, weil ich es nicht übers Herz bringe, ihn ganz und gar aufzugeben, aber ich kann ihn nicht vor sich selbst schützen. Er sieht einfach nicht ein, daß es so nicht weitergehen kann. Er
will
gar kein anderer werden.«
|193| »Vielleicht ist er nicht depressiv, sondern nur müde«, sagte Do. »Er hatte eine Menge zu verkraften. Du weißt, wovon ich rede.« Sie spürte, wie kraftlos sie selbst war. Eigentlich hätte sie Ursel überlegen sein sollen, weil sie die heikle Dynamik der Mutter-Tochter-Beziehung durchschaute. Vor kurzem hatte sie gelesen, daß man in der Psychologie vom Elektra-Komplex sprach. Demnach nahmen Töchter ihre Mütter nicht als liebevolle Schutzengel wahr, sondern in Wahrheit als Konkurrentinnen um die Gunst der Männer – üblicherweise um die des Vaters. Dos Urteil über ihre Erziehung war eindeutig: eine unreflektierte, sträflich konforme Sechzigerjahreerziehung. Ohne Umschweife gesagt, war sie der Meinung, daß ihre Mutter alles falsch gemacht hatte. Sie sah die Fehler, aber sie sah auch, daß sie nicht in der Lage war, sie zu korrigieren. Gerade darin lag das Fatale bei der Beschäftigung mit psychologischen Mechanismen. Man erfuhr, was alles falsch gelaufen war, und zugleich erfuhr man, daß die Dinge nicht mehr zu ändern waren. Man konnte es so ausdrücken: Die Tatsache, daß sie sich ihrer Mutter überlegen fühlen durfte, bewies Do, daß sie ihr auf immer unterlegen sein würde.
Eine Weile lang war nur das leise Rollen der Reifen zu hören. Ursel blinzelte nachdenklich hinaus, als zögen in der Seitenscheibe nicht die Außenbezirke Berlins an ihr vorbei, sondern Teile ihrer Vergangenheit. »Es ist gut, daß du deinen Vater verteidigst«, sagte sie irgendwann, »aber du solltest mir nicht mein Leben vorwerfen. – Du brauchst nicht zu protestieren, ich weiß, wie du über bestimmte Dinge denkst. Ich habe Onkel Stefan in der Beatleszeit |194| kennengelernt, kurz
vor
deinem Vater. Wußtest du, daß die Beatles mal ein Lied auf deutsch aufgenommen haben? Es hieß ›Komm gib mir deine Hand!‹. Onkel Stefan war ein grandioser Foxtrott-Tänzer, aber er war gut fünfzehn Jahre älter als ich und alles in allem ein verantwortungsbewußter Familienvater. Wir haben uns nichts zu Schulden kommen lassen, das kannst du mir glauben. Mitte der siebziger Jahre, du warst acht oder neun, ist seine Frau dann auf tragische Weise bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, und er stand wieder allein. Für bestimmte Dinge ist man nicht verantwortlich, Dori. Du schätzt mich falsch ein, wenn du annimmst, ich wäre leichtlebig gewesen. Ich habe mich weiß Gott an die Spielregeln gehalten. Es war eine andere Zeit. Damals waren alle verheiratet, und die einzige Chance, glücklich zu werden, war es, ein Verhältnis zu beginnen.«
»Für dich waren es Spielregeln, für mich Schuldgefühle.«
»Ach, Dori. Du liest zu viele Frauenzeitschriften.«
»Ich hatte damals oft Angst vorm Einschlafen.«
»Du hattest eine Schilddrüsenunterfunktion. Irgendwas mit deinem Kalziumkreislauf war nicht in Ordnung.«
»Nein, ich habe mich wegen eurer Trennung schuldig gefühlt. Scheidungskinder
entwickeln
Schuldgefühle.«
»Warum beschäftigt dich das so sehr, Dori?«
»Liegt das nicht auf der Hand?«
»Nein. Du wirst in ein paar Tagen achtunddreißig. Es gibt einen anderen Grund dafür.«
»Warum sollte ich mich mit achtunddreißig nicht mehr schuldig fühlen?«
|195| »Sag mir, was los ist, Dori.«
Do sah ein, daß sie sich nicht dagegen wehren konnte, über das zu reden, was sie bedrückte. Sie wollte es selbst. Irgendwann in den kommenden Tagen, das sah sie deutlich,
würde
sie ihrer Mutter alles erzählen, sei es nach einer Flasche Wein in der Küche oder einer unterschwelligen oder offenen Gehässigkeit Olivers. Und wenn es sowieso zu einem Geständnis kommen sollte, dann konnte sie dieses auch jetzt gleich, hier im Wagen ablegen. Ihre Mutter war neugierig, das stimmte. Aber es steckte noch etwas anderes hinter ihrer Frage. Sie hatte den Wunsch, mit ihrer Tochter durch das Tor einer gescheiterten Ehe endlich in das Reich gemeinsamer
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