Schroedingers Schlafzimmer
war so brutal persönlich. Es war unmöglich, jemanden aus Fleisch und Blut zu lieben, ohne ungeschoren davonzukommen. Oliver stand allein im Zimmer und versuchte sich in einen maßvollen Zustand zu versetzen. Er wollte nicht mehr wütend sein. Und als er sah, daß Jonas das Plüschkätzchen mit seinem Pistolenpfeil getroffen hatte, wurde er nicht wütend. Er sagte sich, daß es keine Rolle spielte. Der Junge würde noch früh genug lernen, daß im Leben nicht jeder Treffer folgenlos blieb.
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Immer wenn Do ihrer Mutter gegenübertrat, hatte sie das Gefühl, sich in etwas Nebensächliches und Nebulöses zu verwandeln. Zwar sagte sie sich jedes Mal: Erkenne das Muster!, es ist nicht real, es ist eine Suggestion – doch das half nichts. Kaum schlossen sie einander in die Arme, erübrigte sich alle Psychologie. Bestimmte archaische Gesetzmäßigkeiten, denen mit reflektierender Vernunft nicht beizukommen war, übernahmen unvermeidlich die Regie. Vielleicht, so dachte Do sich, würde sich daran einmal etwas ändern, wenn Ursel, ihre Mutter, alt und gebrechlich wäre und ihre geistigen Kräfte nachließen. Aber mit zweiundsechzig Jahren war sie von jeder Form körperlichen Verfalls oder geistiger Demenz noch himmelweit entfernt.
Das bedeutete nicht, daß man ihr die Jahre nicht angesehen hätte. Sie hatte sich und ihren Körper im Laufe ihres Lebens nicht in besonderer Weise geschont. Darüber hinaus hatten bestimmte Gewohnheiten ihrer Generation in Bezug auf Alkohol- und Zigarettenkonsum ein übriges getan. Ihr Gesicht war davon gezeichnet. Dreimal in der Woche suchte sie ein Sonnenstudio auf, und um das Zentrum |188| ihrer Nasenspitze herum war in ihre kupferfarben gebräunte Gesichtshaut eine Art Spinnennetz aus Falten gewebt. Die Augen unter zwei dichten Wolken aus dunkelgrünem Lidschatten wirkten pathologisch vergrößert, aufgepumpt von einer unbestimmten wachsamen Gier. Sie lächelte, als stünde sie unerwartet vor einem Pulk von Fotografen, als sie aus dem Gepäckbereich des Flughafens trat und Do unter den Wartenden erblickte.
»Kind!!«, rief sie entzückt, ließ ihren Koffer fallen und umarmte ihre Tochter beherzt, »du siehst müde aus.«
»Oh, na ja«, sagte Do, als müßte sie sich rechtfertigen. »Findest du? Im Moment haben wir ein straffes Programm. Du weißt ja, kurz vor den großen Ferien kommt bei uns immer alles zusammen. Geburtstage, Zeugnisse …«
»Ja, natürlich … Der Flug war übrigens
sehr
unruhig. Ich bin gestorben vor Angst. Der Pilot meinte, das hinge mit bestimmten Scherwinden zusammen – was ist das eigentlich? – und außerdem gäbe es über Großstädten wie Berlin immer besondere Turbulenzen, aber das Flugzeug komme damit bestens zurecht, wir sollten uns keine Gedanken machen. Sehr komisch! Diese Kerle müssen wirklich Nerven haben.«
Do tauchte, ihrer Mutter folgend, in das Sommerhoch Hekate, dessen thermische Turbulenzen das Flugzeug also durchgeschüttelt hatten. Hier am Boden war die heiße, mit Abgasen gesättigte Luft schwer zu atmen und zementfarben.
»Du kannst dich bei uns erst einmal ausruhen«, sagte Do.
|189| »Aber Kind, für wie alt hältst du mich? Wenn ich sage, daß ich mit dem Schlimmsten gerechnet habe, heißt das nicht, daß ich jetzt freiwillig die Augen schließen möchte. Ich hätte aber nichts dagegen, mich bei euch unter die Dusche zu stellen. Die Luft hier
klebt
einem ja regelrecht an der Haut.«
Do hatte sich fest vorgenommen, bestimmte Charaktereigenschaften und Verhaltensformen ihrer Mutter klag-, vor allem aber
kommentar
los hinzunehmen. In den vergangenen Jahren war ihr nämlich bewußt geworden, daß Ursels mütterliche Macht zur vollen Entfaltung ganz entscheidend ihrer töchterlichen Mitarbeit bedurfte. Jede Reaktion, ganz egal welche, stärkte sie – darin lag das Geheimnis ihrer Provokationen. Gab man ihr nämlich recht (»Ja, Mutter, die Luft hier in Berlin ist eine Katastrophe, wir leiden auch Tag für Tag darunter …«), dann kam sie erst recht in Fahrt und bauschte ihr persönliches Empfinden zu einem Phänomen von allgemeingültiger Bedeutung auf. (»Ja, das kontinentale Klima hier ist
sehr
ungesund. Der Zustand der maroden Fabrikanlagen im Osten und die Nähe zu Polen sind da vermutlich nicht gerade förderlich …«) Widersprach man ihr aber (»Es ist doch Sommer, Mama, was erwartest du denn?«), machte man alles nur noch schlimmer, weil sie es liebte, ihre Vor- und Fehlurteile in zermürbenden verbalen
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