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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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Oliver die Schrift nicht entziffern. In einer Schublade (er saß an einem Jugendstilsekretär mit schmetterlingsflügelartigen Beschlägen) fand er ein zerbrochenes Monokel. Er erinnerte sich, daß Schrödinger behauptet hatte, es hätte seinem quantenphysikalischen Großvater gehört. Er hatte es Oliver sogar schenken wollen, es dann aber vergessen. |222| Oliver schloß ein Auge und klemmte sich das Monokel ins andere. Augenblicklich verschwamm die Möbelepochenrumpelkammer zu einem schummrigen Boudoirbrei. Die Konturen verdoppelten sich und schoben sich übereinander. Und es geschah noch etwas anderes: Neben der Rokoko-Sitzgruppe hinter den großformatigen Amordarstellungen bewegte sich etwas ungefähr so, als wäre dort ein Windstoß durch die Falten eines Vorhangs gefahren. Oliver glaubte zunächst, daß es sich um einen optischen Effekt handelte, der mit dem Monokel zusammenhing, aber dann erwuchs der Erscheinung aus dem Weiß von Amors Brustkasten ein Haupt. Und wenn Oliver noch einen letzten Beweis dafür brauchte, daß er nicht allein im Raum war, bekam er diesen jetzt. Die Erscheinung begann mit mädchenhaft heller, schmollender Stimme zu sprechen: »Herrgott, ich friere! Warum drehst du immer die Heizung ab? Es ist
eiskalt

    Oliver konnte es nicht fassen. Die Tatsache, daß jemand im Raum war, ließ ihn erstarren. Er dachte: Kaum hat meine Einbrecherkarriere begonnen, findet sie auch schon ihr jämmerliches Ende. Er sah sich in einen Abgrund aus Peinlichkeit und Schuld stürzen. Im übrigen fand er es, gelinde gesagt, ziemlich warm.
    Die Stimme sagte: »Wenn du mich schon hier einsperrst, anstatt mit mir in meine Heimat zu ziehen, dann sorg wenigstens dafür, daß man sich hier nicht vor lauter Kälte den Tod holt! Außerdem paßt es mir
absolut
nicht, daß du kommst und gehst, wie es dir gefällt. Immer soll alles nach deiner Pfeife tanzen. Und noch nie hast du mich irgendwohin mitgenommen, obwohl du’s immer wieder |223| versprichst. Spiele ich in deinen blöden Zauberergedanken überhaupt
irgend
eine Rolle?«
    Oliver überwand seine Lähmung und riß sich das Monokel aus dem Auge. Das Mädchen entpuppte sich als verdrossen dreinblickende, heftig gestikulierende, sehr dunkelhaarige Sechzehn- oder Siebzehnjährige. Sie wirkte orientalisch, aber davon abgesehen, dachte Oliver, hätte sie seine im Handumdrehen erwachsen gewordene Tochter Jenny sein können. Sie strahlte die gleiche egozentrische Widerspenstigkeit aus. Das Geschöpf war in mehrere Schichten seidener Schleier gehüllt, deren Farben in dosierten Abstufungen von warmen Gelb- bis zu gesättigten Orangetönen reichten. Oliver räusperte sich. Sie kam näher und sagte: »Wer bist
du
denn?«
    »Schwer zu erklären«, sagte er. »Und Sie?«
    Sie wuchs ein paar Zentimeter. Die sonnenfarbenen Schleier legten sich noch enger und weicher um ihren schlanken Leib. Dann sagte sie mit tiefernstem Hochmut: »Ich? Ich bin Salome, Tochter der Herodias, Prinzessin von Judäa!«
    Dann machte sie eine dramatische Pause. Zu ihrem Verdruß schwieg Oliver. Sie hatte erwartet, daß er beeindruckt sein und irgend etwas Ehrerbietiges von sich geben würde. Sie setzte sich in ein sandfarben bezogenes Jugendstilfauteuil. Oliver betrachtete es als Wunder, daß sie nicht die gesamte Nachbarschaft mit hysterischem Mädchengekreische aufweckte. Das Fauteuil, in das sie sich hineinlümmelte, stand auf halbem Weg zur Bühne neben einer der drei bleichhäutigen und übrigens in
allen
Details sehr realistisch ausgeführten Amordarstellungen. Oliver begnügte |224| sich vorerst mit der Annahme, daß Schrödinger hier Rollenspiele veranstaltete. Das war nicht unbedingt logisch, ermöglichte ihm aber, sich in der Situation zurechtzufinden.
    Das Mädchen   – Salome also – seufzte: »Kennst du Balthi? Ich finde ihn wunderbar, auch wenn er ein ekelhaftes Schwein ist. Er nimmt nicht die geringste Rücksicht auf mich und meine Bedürfnisse. Er tut einfach, was ihm gefällt. Aber jetzt reicht’s mir, er wird sich noch wundern. Ich tue nämlich auch, was mir gefällt.« Sie sprang wieder auf und kam auf Oliver zu. Sie trug feinriemige Jesuslatschen an ihren bloßen Füßen. Als sie den Tisch erreicht hatte, rutschte sie mit einer Pobacke auf die Tischkante. Die Seidenschleier spannten sich von der Taille bis zu den Oberschenkeln um ihren Körper und ließen durchschimmern, daß sie unter den zarten Stoffbahnen nichts weiter am Leib trug. Oliver schluckte.
    Er sagte: »Das ist

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