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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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erreicht hatte. Plötzlich fand er sich auf dem Gehweg vor dem Haus wieder und konnte sich nicht daran erinnern, wie er dorthin gekommen war. Aus den Geräuschen, die vom Garten auf die Straße drangen, schloß er, daß die Party nach wie vor in vollem Gange war und ihm wohl nur ein paar Minuten fehlten. Alles hatte die Tendenz, sich in Brennpunkten zu sammeln: das Licht, die Menschen und auch der Rausch. Und nun war diese Verdichtung von Bewußtlosigkeit schon wieder vorüber.
    Verwaist stand er da, in der gepflegten Vorgartenleere des Wohngebiets, unter leise raschelnden Baumkronen, als wäre er herausgefallen aus irgendeinem Nest. Er dachte: aus meinem Leben. Er wollte nicht, daß irgend jemand ihn so sah, und ging los. Das Licht der Straßenlaternen hob ihn aus der Nacht, aber in den dunklen Zwischenräumen fühlte er sich geschützt. Als er um die nächste Straßenecke bog, atmete er freier. Er sog den Duft der Linden in sich hinein, deren Wurzeln die Gehwegplatten aufgeworfen hatten. Zuweilen joggte er morgens durchs Viertel, und es beruhigte ihn, daß es immer die gleichen Straßen und Häuser waren, die er dabei zu sehen bekam. Auch jetzt |217| war es so: Die Akazienstraße und der Eibenweg kreuzten einander in der üblichen, nicht ganz rechtwinkligen Weise. Und er dachte: Was wäre das für eine Welt, in der Straßen Rotwein trinken könnten?
    Er kam an der alten Litfaßsäule aus rohem vermoostem Zement vorbei. Sie gehörte zum Viertel wie ein stummer, steinerner Mitbewohner. Noch nie hatte Oliver eine Reklame daran gesehen, noch nicht einmal ein illegales Plakat oder Flugblatt. Letzteres bedeutete, daß weder Anarchisten noch freie Theatergruppen je auf die Idee gekommen waren, daß sich hier, in diesem paradiesisch langweiligen Bezirk, irgendein Publikum finden könnte, das anzusprechen oder wachzurütteln sich lohnte. Oliver war an der alten Säule immer vorbeigelaufen, aber jetzt blieb er stehen. Er bückte sich, fand einen Kieselstein und kratzte in den rohen Beton mit großzügigem Schwung helle Linien. Es befriedigte ihn zu zeichnen, eine tiefe archaische Befriedigung. Das war es, was Urmenschen in ihren Höhlen empfunden haben mußten, als sie anfingen, mit Steinen oder Kohlestückchen Tiere und auch sich selbst zu zeichnen. Anstatt – wie jener Käfigaffe – nur die Wände ihrer Höhlen abzubilden, hatten sie gleichsam Fenster hineingezaubert.
    In einem Schwung erschuf Oliver einen angehobenen Arm, die kleine Bucht einer Achselhöhle, die Flanke eines Oberkörpers, einen wohlproportionierten Taillen- und Hüftbogen und die gewölbte Kontur eines Oberschenkels. Danach ließ er eine zweite Linie herabfließen, die er durch die Rundung einer Brust ergänzte. Ein geschwungenes Y markierte den Schoß, ein Halbkreis die zweite |218| Brust. Und mit einem angedeuteten femininen Profil gab er dem Akt ein Gesicht. Er hatte nicht darüber nachgedacht, aber als er einen Schritt zurücktrat, sah er: Es war Do.
    Vom Zeichnen, vom In-die-Hocke-Gehen und Sich-wieder-Aufrichten und den ausladenden Armbewegungen, wurde ihm schwindlig. Die Geister des Tinto Fino kehrten zurück und übernahmen erneut die Kontrolle. Das Graffiti verschwamm vor seinen Augen, und als es ihm gelang, die Zeichnung wieder zu fokussieren, war sie lebendig geworden. Wie eine Seilwelle durchlief ein Hüftkick den lasziv überstreckten Leib. Auf einmal sah Oliver nicht mehr Do, sondern Salome-Saidi, die Bauchtänzerin. Es gibt eine Art von Scheinnüchternheit auf hohem Trunkenheitsniveau, und er begriff sehr deutlich, daß seine Sinne ihn täuschten, aber auch, daß er dagegen machtlos war. Was er sah, faszinierte ihn, aber es war nicht real. Er mußte dringend weiterziehen, um die erforderlichen Mengen lauer Sommernachtsluft zu tanken, die nötig waren, in seinem Kopf wieder ein gewisses Minimum an Klarheit zu schaffen.
    Es gab dabei aber ein Problem: Nicht nur er, sondern die ganze Welt war jetzt betrunken! Die Straßen ebenso wie die Zäune. Gartentore torkelten an ihm vorbei, und der Schein der Straßenlaternen bog sich von ihm fort, sobald er versuchte, sich ihren Pfosten auf geradem Weg zu nähern. Es war nicht leicht, sich in diesem Delirium der Dinge zurechtzufinden, und er war heilfroh, als sein Blick ein Haus aus dem Strudel seiner Sinneseindrücke fischte, das er kannte. Es lag bläulich silbern im Halbmondlicht |219| da. Und als sein Bewußtsein diesen Rettungsanker ergriffen hatte, befand er sich auch schon vor der hinteren

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