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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Morf
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Auffallend war sein roter Haarschopf, in den neuerdings etwas Grau hineinspielte. Streiff hatte aber nicht die helle Haut und die blonden Wimpern der meisten Rothaarigen, sondern war gebräunt, und seine Augen waren blau. In puncto Wiedererkennung hatten die anderen also schon wegen seines Äußeren die besseren Karten. Die Erkenntnis, was mit seiner Wahrnehmung nicht stimmte, hatte ein Zeitungsartikel gebracht, auf den er zufällig gestoßen war. Aha. Prosopagnosie hieß das. Seither lebte er besser mit dieser Schwäche, konnte sie einigermaßen kompensieren, und er bezahlte gerne den geringen Preis, dass Leute ihn anfangs wegen seines Blicks unsympathisch fanden.
    Er war erschrocken, als man ihm als Tatort FahrGut genannt hatte. Aber er hatte keinen Moment daran gedacht, den Fall an einen Kollegen abzugeben. Niemand wusste davon, dass Valerie Gut und er sich früher näher gekannt hatten.
    Er berührte Valerie, die bei der Hintertür stand und auf den Hof hinausstarrte, am Ärmel. »Es tut mir leid, was da geschehen ist. Kanntest du den Toten?«
    Sie nickte. »Hugo Tschudi. Ein Kunde von uns, oder, na ja, er kam jedenfalls häufig in den Laden.«
    »Seine Adresse? Du hast doch eine Kundenkartei.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Die Adresse hab ich mal gelöscht.«
    »Warum?«
    »Er ging mir auf die Nerven«, gab Valerie zu, »er hat sich immer hier aufgehalten, man wusste gar nicht recht, warum. Wir waren wohl ein Element in seiner Tagesstruktur.« Sie wusste, sie würde sich später für ihren Sarkasmus schämen, aber im Moment kamen Widerwille und ein unvernünftiger Trotz in ihr hoch. Sie verwünschte die ganze Situation, in die sie da geraten war, wünschte sich einen ganz normalen Tag. Sie nahm sich zusammen: »Ich hab mal gehört, er wohne bei seiner Mutter, die müsste uralt sein; aber ich weiß es nicht. Frag meinen Mechaniker, Markus Stüssi, der hatte ein wenig Kontakt zu ihm.«
     

2. Teil
    Beat Streiff setzte sich in der Regionalwache Wiedikon an seinen alten Schreibtisch. Zita Elmer, seine Nachfolgerin, hatte ihm das Büro für die ersten Befragungen zur Verfügung gestellt. Seit er vor viereinhalb Jahren zur Kriminalpolizei gegangen war, war er nicht mehr hier gewesen. Der Raum sah fast aus wie damals. Dieselben Möbel, die gleichen Aktenschränke. Ein anderes Bild hing an der Wand. Zita Elmer hatte ein großes Poster von einer Klettertour angepinnt. Eine steile Felswand, an der, winzig klein, drei Bergsteiger klebten. Ob sie selbst kletterte? Er kannte seine junge Kollegin nur flüchtig. Zu seiner Zeit hatte die Wand ein Druck von Mark Rothko geziert. Auf dem Schreibtisch stand kein Aschenbecher. Er selbst brauchte auch keinen mehr. Vor zwei Jahren hatte er aufgehört zu rauchen. Das sah man ihm an, leider. Trotz Judotraining hatte er sieben Kilo zugenommen. Warum kam ihm das gerade jetzt in den Sinn? Momentan zählten andere Dinge. Die Lokalitäten des FahrGut waren versiegelt, bis die Untersuchung des Tatorts abgeschlossen war. Elmer hatte ihn über die Anzeige vom Vorabend informiert, wegen des Diebstahls von 4.000 Franken aus der Kasse. Und sie hatte ihm auch berichtet, dass Valerie in den letzten Tagen anonym belästigt und bedroht worden war. Streiff hatte gehört, dass die junge Polizistin ihre Sache gut machte. Von Valerie hatte er nichts gehört. Ab und zu sah er in der Stadt Fahrräder mit dem kleinen, grün-weiß gestreiften Aufkleber des FahrGut. Manchmal nur vereinzelt. Aber zeitweise traten sie gehäuft auf, schienen sich ihm geradezu aufzudrängen. Plötzlich waren sie wie vom Erdboden verschwunden. Es war wie ein geheimes Muster, aus dem er nicht schlau wurde. Klar war ihm einzig, dass er selbst es produzierte. Aber er hatte in dieser Sache keine Nachforschungen angestellt.
    Lieber als in seinem Inneren ermittelte er in der Außenwelt. Beim konkreten Anlass einer Gewalttat. Dann war es seine Aufgabe herauszufinden, wer sie begangen hatte. Darin war er gut. Er galt als begabter, hartnäckiger Ermittler und als Verhörspezialist. Mit einer Gewalttat wurde das Gleichgewicht im Zusammenleben der Menschen gestört. Er trug dazu bei, die Balance wiederherzustellen, indem er herausfand, was geschehen war. Möglichst umfassend, möglichst genau. Aber auf die Tat fokussiert. Das Geschehen zu werten, es in die Lebensgeschichten der Beteiligten einzubetten; eine Sanktion festzulegen, war dann Sache des Gerichts. Natürlich hatte er eine persönliche Meinung. Aber diese durfte nicht in seine

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