Schrottreif
Beat Streiff gegeben. Wünschte sie sich etwa dafür Trost von ihm, fragte sie sich argwöhnisch. Sie beschloss, die Frage zu vertagen.
»Weiß man denn schon, um welche Zeit er umgebracht wurde?«, wollte sie mit dünner Stimme wissen. »Ich meine, wegen der Alibis.«
Streiff nickte. »Ich verhafte dich nicht, Valerie«, sagte er. »Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte? Ist dir irgendetwas aufgefallen?«
»Ich weiß nicht, ob es damit zu tun hat«, rückte Valerie heraus. »Aber ich werde seit einigen Tagen bedroht und belästigt von irgendeinem Typen. Frau Elmer weiß Bescheid, ich habe Anzeige erstattet.«
»Ich weiß«, nickte er, »sie hat mich informiert. Ich werde mich darum kümmern. Geh jetzt nach Hause. Geh mit dem Hund auf die Allmend. In dein Geschäft kannst du eh nicht, das ist versiegelt. Vermutlich noch einige Tage. Ich lasse von mir hören, wenn ich mehr weiß.«
Einen Moment lang stieg Wut in ihr hoch. »Für dich ist das Alltag, tote, umgebrachte Menschen, aber ich habe das noch nie erlebt. Und ich will es auch gar nicht erleben.«
»Eben«, bestätigte Beat, »ruf deine Freundin an. Lina hieß sie doch, oder? Sie soll heute Abend für dich kochen. Und stell mir bitte eine Liste der bei euch gestohlenen Gegenstände zusammen, mit Datum des Diebstahls, genauer Markenbezeichnung und Preis der Sachen.«
Auf dem Heimweg ging Valerie durch den Kopf, dass Beat offenbar nicht annahm, dass sie einen Freund hatte. Zu Hause verkroch sie sich nach einer Dusche in die Bibliothek und kuschelte sich in ihren Lieblingssessel. Essen mochte sie nicht. Lesen auch nicht. Sie versuchte zu begreifen, was heute geschehen war. Ich muss es einfach zur Kenntnis nehmen, dachte sie. Es ist passiert, das ist jetzt meine Realität. Aber dass ich es verstehe, kann wohl niemand von mir verlangen. Vielleicht kann ich es, wenn man weiß, wer das getan hat.
Beat ging ihr durch den Kopf. Sie dachte fünf Jahre zurück. Ihre Affäre hatte nicht lange gedauert, ein paar Monate. Damals war sie seit neun Jahren mit Lorenz zusammen gewesen. Sie hatten Tisch und Bett geteilt, aber innerlich waren sie dabei gewesen, sich voneinander zu entfernen. Trotzdem hatte Valerie Schuldgefühle gehabt, als sie Lorenz betrog. Sie hatte sich von Beat getrennt und er hatte es akzeptiert. Gegen alle Logik hatte sie das gekränkt und sie hatte es ihm ein wenig übel genommen. War das einfach verletzte Eitelkeit? Er hatte sie sehr leicht gehen lassen. Hätte sie mehr von ihm gewollt? Damals sicher nicht. Sie war noch nie fähig gewesen, nahtlos von einer Beziehung in die nächste zu wechseln. Später, nach der Trennung von Lorenz, hatte sie ab und zu an Beat gedacht. Sie hätte sich gefreut, ihn zufällig anzutreffen. Aber der Zufall tat ihr diesen Gefallen nicht. Und melden mochte sie sich nicht bei ihm. Er ließ ja auch nichts von sich hören.
Jetzt war er plötzlich aufgetaucht. Im ersten Moment war sie überrascht gewesen, erschrocken, aber es war so vieles auf sie eingestürmt, dass sie gar nicht darüber nachdenken konnte. War sie erleichtert gewesen, als sie ihn hereinkommen sah? Ja, gestand sie sich ein, ein wenig. Widerstreitende Gefühle überkamen sie. Musste sie jetzt dankbar sein, dass er die Zügel in die Hand nahm, in einer Situation, die sie überforderte? Musste sie jetzt einfach warten, bis er den Fall souverän gelöst hatte? Dieser Gedanke gefiel ihr gar nicht. Damals, vor fünf Jahren, war sie die Aktive gewesen, die entschieden hatte, und er von einer Passivität, die sie geärgert und enttäuscht hatte. Und jetzt? Nun war er der Handelnde und sie war das verschreckte Kind, das man nach Hause schickte. Nein, sie wusste, dass sie ihm damit Unrecht tat. Er hatte es sicher nicht so gemeint, sondern nur nett sein wollen. Richtig. Nur nett. Nicht mehr. Und was passte ihr daran nicht? Wünsche ich mir etwa, dass er mehr als nur nett ist zu mir? Valerie, dir ist nicht zu helfen, schalt sie sich. Hör sofort auf damit. Hugo Tschudi ist ermordet worden und du denkst an den Polizisten. Bravo. Sie ging in die Küche und zwang sich, ein Butterbrot zu essen. Dann rief sie Lina an.
Montag, 3. Woche
1. Teil
Es war Ostermontag. Die Geschäfte waren geschlossen, auf der Straße war wenig Verkehr und es waren nur vereinzelte Passanten unterwegs. Halb Zürich war in den Bergen oder im Tessin. Beat Streiff aber saß in seinem Büro in der Zeughausstrasse, blätterte im Bericht der Rechtsmedizin und in seinen Notizen zu den
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