Schrottreif
Ladenschlüssel aus der Kasse geschnappt. Wahrscheinlich war er dann mit einem Komplizen in den Laden eingedrungen, um Diebstähle zu begehen. Eventuell nicht zum ersten Mal? Womöglich hatten die beiden Streit bekommen und der Komplize hatte Tschudi erschlagen. Das wäre zwar sehr dumm gewesen, aber das war kein Gegenargument. Vermutlich. Wahrscheinlich. Eventuell. Vielleicht. Es war zu früh, um Aussagen zu treffen. Aber Streiff zweifelte an dieser ersten, so einfachen Theorie. Es konnte sein, dass Tschudis Tod überhaupt nichts mit den Diebstählen zu tun hatte. Dass da ein völlig anderes Motiv dahintersteckte.
Als Erstes war Streiff am Mittwoch in Hugo Tschudis Wohnung gewesen, in einer düsteren, in den 70er-Jahren mit viel braunem und orangefarbenem Novilon renovierten Altbauwohnung im Kreis fünf, begleitet von zwei Leuten von der Technik, die dort nach Spuren suchen sollten, die möglicherweise Hinweise gaben auf den Komplizen, auf den Mörder. Gab es einen Komplizen? Einen Mörder gab es zweifellos. Sie alle drei waren gleichermaßen überrascht gewesen von Hugo Tschudis Wohnung. Im ersten Moment hatten sie das Gefühl gehabt, sich in der Wohnung einer alten Frau zu befinden. An der Garderobe hatte ein Altfrauenregenmantel gehangen, Frauenschuhe hatten dagestanden. Stüssi hatte Streiff gegenüber erwähnt, Hugo habe nach dem Tod seiner Mutter deren Wohnung übernommen, was immerhin schon ein Jahr her war. Offensichtlich hatte er nicht das Geringste verändert. Nicht einmal ihre Kleider hatte er weggebracht, geschweige denn die Nippesfiguren oder gehäkelten Deckchen entsorgt. Alte Familienfotos an den Wänden, ein großformatiger Kalender mit zwölf Hundewelpenbildern aus dem Jahr 2003, Vorhänge, Teppiche, Möbelstücke – alles stammte zweifellos von der seligen Frau Tschudi. Im Badezimmer hatten neben Rasierzeug Tuben mit vertrockneten Resten von Gesichtscreme und eine Haarbürste mit einigen weißen Haaren darin gelegen. In einer Schrankhälfte war Männerkleidung untergebracht. Jeans, Hemden, Wäsche, eine Winterjacke. Alles hatte ziemlich nach secondhand ausgesehen. In der Stube hatten ein paar Zeitungen neueren Datums herumgelegen. In der Küche einige Konservendosen, vermutlich schon aus der Nachmutterperiode. Gut möglich, dass es jetzt schmutziger und unordentlicher war als früher. Streiff hatte sich unwillkürlich nach einer Urne umgeschaut. Aber die Wohnung hatte eigentlich nicht den Eindruck gemacht, dass Tschudi hier ein Mausoleum für seine verblichene Mutter hatte einrichten wollen, dafür hatte das Ganze zu lieblos gewirkt, sondern es hatte eher so ausgesehen, als ob es ihm schlicht egal war, was herumlag. Für seine wenigen Habseligkeiten hatte die Wohnung genügend Platz geboten, selbst wenn er sich die Mühe sparte, die Dinge der Mutter wegzubringen. Er hatte sie benutzt wie ein Hotelzimmer, sich im Vorgefundenen eingerichtet, ohne sich eine persönliche Umgebung zu schaffen. Spuren von anderen Personen gab es nicht. Kein Hinweis auf Gäste, eine Freundin oder einen Freund. Was war Hugo Tschudi, 48 Jahre alt, für ein Mensch gewesen?, hatte sich Beat Streiff gefragt, während er ratlos auf einen kleinen schwarzen Porzellanschwan gestarrt hatte, der in einem Regal stand. In der Wohnung hatte sich weder Geld noch Diebesgut gefunden. Ein Adressbuch mit wenigen Namen hatte auf dem Tisch gelegen. In einem Regal der Wohnwand, die natürlich aus dunklem Holz war, was den Raum noch düsterer wirken ließ, hatte eine Sammlung von zerfledderten älteren Kriminalromanen gelegen. Ob die von der Mutter oder vom Sohn Tschudi stammten? Streiff hatte in einigen geblättert. Na, das würde wohl nicht weiterhelfen. Alle möglichen Leute lasen Kriminalromane. Er hatte die Inhaltsangaben überflogen. Offenbar hatten Mutter oder Sohn Tschudi eine Vorliebe gehabt für Krimis, in denen Erpresser ihr Unwesen trieben.
Am interessantesten aber war der Inhalt des Mülleimers gewesen, den er sich zuletzt vorgenommen hatte. Dort hatten sich nämlich ein Paar dünne Gummihandschuhe und einige zusammengeknüllte Zeitungen gefunden. Eine Boulevardzeitung, in großen Buchstaben gedruckt. Einzelne Wörter und Buchstaben waren herausgeschnitten worden. Und noch etwas hatte Streiff aus dem Abfall gezogen: eine mit Fischchen bedruckte Alufolienverpackung mit aufgeklebtem Kassenetikett aus dem Coop Letzipark, die Verpackung eines Wolfsbarsches, gekauft drei Tage, bevor Valerie den toten Fisch bekommen
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