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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Morf
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trainiert. Nun begann er in seinem Klub Trainings zu leiten, Kurse zu geben. Es machte ihm Spaß, wenngleich er bei Kursbeginn immer Probleme hatte, sich die Gesichter der Teilnehmer einzuprägen. Er hatte Ideen. Er schrieb Kurse aus für Blinde, Kurse ausschließlich für Mädchen, gab in Zusammenarbeit mit Schulen und Heimen Kurse für verhaltensauffällige Schulkinder. Es fiel ihm leicht, seinen Schülerinnen und Schülern dabei zu helfen, ihre Unsicherheiten und Ängstlichkeiten zu überwinden, ihren Körper besser zu spüren, ihre Energie auszuleben, ohne dass es zerstörerisch wurde.
    Das hatte Anikò gut gefunden. Anikò, seine damalige Freundin. Sie waren schon im Gymnasium zusammen gewesen. Sie hatte nach der Matura Pädagogik studiert und eine Arbeit über eines seiner Trainings geschrieben. Einmal war er gebeten worden, Judokurse für angehende Polizistinnen und Polizisten zu erteilen. Schließlich, mit 27, hatte er beschlossen, selbst zur Polizei zu gehen. Das hingegen hatte Anikò nicht gefallen. Eigentlich war das der Grund für ihre Trennung gewesen. Einen einfühlsamen Judolehrer zum Freund haben war okay, aber mit einem Polizisten wollte sie nicht zusammen sein. Vielleicht waren die endlosen Diskussionen über den Umgang einer Gesellschaft mit Individuen, die sich abweichend verhielten, nur ein Vorwand gewesen, womöglich musste eine Jugendliebe irgendwann zu Ende sein. Es hatte Streiff gekränkt, dass sie immer auf seinem Beruf herumgehackt hatte, als ob er sich durch seinen Entschluss und seine Ausbildung mit einem Mal in einen rechts stehenden, brutalen Deppen verwandelt hätte. Aber auch er hatte die Auseinandersetzung nicht auf eine andere Ebene gebracht. Er hatte sich zuerst sachlich, später ungehalten und ungeduldig verteidigt und ihr ihre politische Blauäugigkeit vorgeworfen. Anikò hielt ihm vor, einer Justiz in die Hände zu arbeiten, die Straftäter einfach wegsperrte, statt sich mit ihrer Geschichte, den Verhältnissen, die sie so weit gebracht hatten, zu befassen. Er konterte, dass für ein Opfer einer Straftat die Lebensgeschichte des Täters das Erlittene nicht mildert.
    »Eine Strafe als Rache ebenso wenig«, hatte Anikò zurückgegeben.
    »Eine Strafe stellt ein Gleichgewicht wieder her, das durch die Straftat gestört worden ist«, erklärte Streiff. »Indem der Täter bestraft wird, anerkennt die Gesellschaft, dass dem Opfer Unrecht getan worden ist, und nimmt es wieder auf. Gleichzeitig wird dem Täter damit klargemacht, dass sein Verhalten von der Gesellschaft nicht toleriert wird.«
    Er hatte versucht, ihr den Unterschied zwischen einer Strafe und Rache zu erklären und ihr die Geschichte einer Frau erzählt, die von ihrem Exfreund schwer misshandelt worden war. Er hatte beim Prozess als Zeuge ausgesagt. Der Mann war verurteilt worden, musste aber seine Strafe nicht verbüßen, da er sich ins Ausland abgesetzt hatte.
    ›Wissen Sie‹, hatte ihm die Frau anvertraut, ›dass er die Strafe nicht absitzen wird, ist mir vollkommen gleichgültig. Aber dass er verurteilt worden ist, das ist für mich sehr wichtig.‹
    Solche Überlegungen waren Anikò, die zu der Zeit ein Praktikum in einem Heim für Kinder aus desolaten Verhältnissen machte, die zum Teil schon mit zehn Jahren delinquierten, fremd gewesen. Verschiedentlich hatte er in einer solchen fruchtlosen Diskussion die Beherrschung verloren und einmal hatte er das Wort ›Gutmensch‹ gebraucht. Das hatte sie ihm nicht verziehen und irgendwann war die Beziehung schließlich zu Ende gewesen.
    Vielleicht hatte er sich deshalb recht schnell mit einer Kollegin eingelassen. Es sollte ihm nicht nochmals passieren, dass er sich für seinen Beruf rechtfertigen musste. Er hatte Liliane gerngehabt, sie hatten nach einem Jahr geheiratet. Mit ihr gabs keinen Streit über seine Tätigkeit, im Gegenteil, es war spannend, sich auszutauschen, einander zu erzählen, in was für Situationen man bei seiner täglichen Arbeit geriet und wie man sich verhielt. Von seiner Prosopagnosie hatte er Liliane nie erzählt. Im Laufe von ein paar Jahren hatte Streiff realisiert, dass er mit seiner Frau eigentlich über nichts anderes als die Arbeit reden konnte. Er begann, sich mit ihr zu langweilen. Er hatte keinen Versuch unternommen, sich um die Beziehung zu bemühen, er wurde schweigsam und zog sich zurück, was wiederum sie langweilte. Die Scheidung war kein Drama gewesen. Liliane zog aus, er blieb in der Wohnung, die er ohne sie als wohltuend

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