Schrottreif
Gummihandschuhe hindurch fast die Finger verbrannte, benutzte kein umweltschonendes Putzmittel, sondern verschiedene scharf riechende chemische Mittel in rauen Mengen. Um sie herum war jetzt keine Umgebung, die zu schonen war, im Gegenteil, die oberste Schicht dieser Umwelt, die jüngsten Spuren mussten weg. Wegätzen, dachte sie böse. Seppli hatte sich ins Büro zurückgezogen und nagte an einem Spielknochen, er riss sich nicht darum, Teil dieser Inszenierung zu sein, die sein kleines Hundehirn überstieg.
Beat Streiff hatte sich nochmals bei ihr gemeldet. Ob es sein könnte, dass Tschudi an jenem Tag, bevor er ermordet wurde, den Reserveschlüssel aus der Kasse genommen hatte. Valerie erinnerte sich, dass sie Hugo bemerkt hatte.
»Möglich«, meinte sie.
»Es könnte sein, dass er den Schlüssel zufällig entdeckt hat und die Gelegenheit nutzte.«
»Deine Aufgabe, das herauszukriegen«, hatte Valerie erklärt. »Vielleicht hat er ihn auch irgendwann genommen und ist nachts hereingeschlichen, um Waren zu klauen. Wir haben nicht dauernd überprüft, ob der Schlüssel da war. Das würde erklären, dass Gegenstände wegkamen, die man nicht einfach unauffällig entwenden kann.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, war ihr in den Sinn gekommen, dass sie Frau Zweifel nach den Fotos hatte fragen wollen. Sie rief an, aber es sprang gleich der Anrufbeantworter an und sie mochte nicht darauf sprechen.
Sie telefonierte auch nicht nochmals mit Streiff. Die Idee kam ihr gar zu unwahrscheinlich vor, sie wollte sich nicht blamieren und sie wollte nicht als übereifrige Hobbydetektivin dastehen. Zudem, dachte sie in einem Anflug von Boshaftigkeit, soll er es doch selbst herausfinden, wenn er ein guter Ermittler ist. Die Probleme, die sie gerne löste, waren eher technischer Art, da tüftelte sie gerne, probierte aus, zweckentfremdete Materialien und Teilchen, erfand unkonventionelle Lösungen, an denen sie Freude hatte. Aber konnte man sich freuen, wenn man einen Mörder überführte? Wohl nicht wirklich. Nicht mit dem Herzen. Sie dachte an Smiley, den Geheimdienstagenten in John Le Carrés Romanen. Der hatte sich gefreut, als er Karla, seinen Widersacher aus dem Ostblock, bezwungen hatte. Valerie liebte diese Szene am Ende von ›Agent in eigener Sache‹, in der sich Smiley, ganz ohne Triumphgefühl abwendet: ›George, Sie haben gewonnen‹, sagte Guillam, als sie langsam zum Wagen gingen. ›Wirklich?‹, sagte Smiley. ›Ja. Ja, es sieht wohl so aus.‹
Man konnte das natürlich nicht mit Beats Situation vergleichen. Sie konnte ihn bei Gelegenheit fragen, wie es ihm ging, wenn er einen Fall gelöst hatte. Wenn er ihn löste.
Ihr wurde bewusst, wie sehr sie sich wünschte, dass der Mord aufgeklärt wurde. Da war irgendwo in ihrer Umgebung ein Mensch, der gefährlich war. Der jemanden umgebracht hatte. Sie wusste nicht, warum. Vielleicht hatte es mit FahrGut gar nichts zu tun, möglicherweise war der Tatort zufällig. Aber vielleicht auch nicht. Womöglich hatte der Mörder einen Grund, nochmals jemanden umzubringen. Es war kein gutes Gefühl. Ich muss es wissen, dachte Valerie, ich muss wissen, wer es war! Und wenn Beat es nicht herausfindet, dann muss ich eben dahinterkommen. Jedenfalls habe ich ja auch eine Spur. Und von der weiß er bis jetzt nichts. Sie fischte einen Nikotinkaugummi aus ihrer Tasche.
*
Am Freitagabend hatte Leon wieder für sie gekocht, Couscous mit dicken Lammfleischstücken, und er hatte ihr mindestens so viel Rotwein eingeschenkt wie ein paar Tage zuvor.
Valerie erzählte ihm von ihrem Gefühl von Machtlosigkeit und Verlust, von ihrer Empfindung, dass etwas zutiefst Böses in ihre Welt eingebrochen war und etwas Unheimliches, weil sie keine Ahnung hatte, warum es geschehen war und wer dahintersteckte.
»Das siehst du zu dramatisch«, wehrte Leon ab. »Das Böse. Was heißt schon böse? Gut, böse, das sind biblische Begriffe. Die Welt ist nicht klar unterteilt in Gut und Böse, sie ist voll von Widersprüchen, von einem Durcheinander an Motiven, Gedanken, Gefühlen. Das, was man als ›böse‹ bezeichnet, ist doch meistens einfach Dummheit.« Valerie hatte nicht die geringste Lust auf theoretische Erörterungen, aber Leon fuhr fort: »Du weißt nicht, was wirklich geschehen ist in jenen Minuten, da Täter und Opfer in deinem Laden waren. Vielleicht ist der Täter ein armer Teufel.«
Valerie fuhr auf: »Hör auf mit diesem Quatsch! Soll ich den Typen etwa trösten? Das interessiert mich
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