Schubumkehr
Foto, wann hatte er seine Mutter das letzte Mal gesehen? Auf dem Flughafen vor seiner Abreise nach São Paulo, als er sich noch einmal nach ihr umdrehte und ihr zuwinkte, bevor er durch die Paßkontrolle ging. Sie hatte ein elegantes französisches Kostüm getragen, das war seine Mutter, nicht die da mit der Latzhose, erstklassige Lederstiefel, keine Gummistiefel.
Er fragte sich, ob er sich jetzt damit abfinden müsse und könnte, daß seine Mutter tot sei. Er fragte sich das ernsthaft, was hieß, daß er sekundenlang vor sich hinschaute, dabei diesen Gedanken festhielt und wartete, was passierte. Nichts. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie sie lebte. Nichts – in das sofort wieder etwas anderes eindrang. Er bekam einen Schreikrampf, als seine Freundin vollgepackt mit Waren eines Bio-Ladens heimkam. In Wahrheit war sie nicht vollgepackt, sondern sie trug eine Einkaufstüte von ALTERNATIVA, einem in der Nähe befindlichen Geschäft für Vollwertprodukte und Naturkosmetik. Und er bekam auch keinen Schreikrampf, sondern starrte sie nur fassungslos an, wortlos, aber so, daß er gleichzeitig dachte, erzählen müßte man: sie vollgepackt mit Bio-Gemüse, er Schreikrampf.
Was hast du, Lieber?
Er verstummte im Zusammenleben mit ihr. Abkanzeln, verhöhnen, manchmal tatsächlich herumbrüllen, das waren auch Symptome dieses Verstummens.
Sie hatte Freunde zum Abendessen eingeladen. Erinnerst du dich nicht? Ja Ja. Während sie kochte, saß er in seinem Schaukelstuhl und schaukelte, als wäre dies eine Aufgabe, die er sorgfältig und konzentriert bewältigen müßte.
Als dann beim Abendessen Naturreis von ALTERNATIVA als Beilage auf dem Tisch stand, erzählte Roman die Geschichte seiner Mutter, apropos Vollwertkost, er hatte schon einiges getrunken und erzählte launig und wortreich, wie wohl es ihm tat, plötzlich so viel zu reden, ein Publikum zu haben. Ist sie nicht verrückt? Wieso verrückt? Er sei zu seiner Mutter zu beglückwünschen. So eine Mutter hätten alle gerne, unkonventionell und stark, selbstbestimmt und mutig. Bricht aus ihrem Trott aus, versucht gegen alle Widerstände aus ihrem Leben etwas Sinnvolles zu machen. Etwas Befriedigendes. Immer wieder das Wort Befriedigend. Was wie eine mittelmäßige schulische Benotung klang, wurde zum Fetisch schlechthin, zur Utopie eines beschränkten Urteilsvermögens. War ihnen allen ihr Leben so nicht genügend, daß sie beim Irrsinn seiner Mutter schon ununterbrochen Befriedigend! Befriedigend! jauchzen mußten? Die eigenen Eltern, welch banale Existenzen! Aber Romans Mutter! Außergewöhnlich! Das da ist sie? Die mit der Latzhose? Wie alt ist sie? Fünfundfünzig? Unglaublich, wie jung sie ausschaut. Und die Schafe, entzückend.
Aber das ist doch verrückt, das sind verrückte romantische Ideologien! Was soll daran selbstbestimmt sein, wenn man, zum Beispiel am Sonntagmorgen, nicht schlafen kann, solange man will, weil man irgendwelche Viecher füttern muß? Was ist unkonventionell, wenn man, wie Abertausende andere auch, die es sich nicht aussuchen konnten, mit Gummistiefeln und stinkendem Gewand im Mist herumwatet, statt ruhig, elegant und gepflegt in einem Kaffeehaus zu sitzen? Was ist sinnvoll daran, eine von Tschernobyl nuklear verseuchte Erde vor Kunstdünger zu schützen und dabei von natürlichem Kreislauf zu quatschen? Was ist befriedigend daran, eine qualifizierte, vernünftige Arbeit, in der man anerkannt und bestätigt war, aufzugeben, um zum dilettierenden Spinner und Paria einer Berufsgruppe zu werden, die, wie in der Literatur dutzendfach beschrieben, aus mistgabelschwingenden Alltagsfaschisten besteht. Und überhaupt, seine Mutter. Ihr erster Mann, sein Vater, ist an den Spätfolgen – was heißt Spätfolgen? So spät war das gar nicht. Viel zu früh! – an den Folgen der Verheerungen gestorben, die die Blut-und-Boden-Heinis an ihm angerichtet hatten. Man wird nicht Bauer. Man legt Bauern. Das einzig Sinnvolle in Hinblick auf Landwirtschaft und Viehzucht ist deren Transformation in eine Lebensmittel produzierende Industrie. Am besten wenige Bauern, die mit großer Maschinerie riesige Flächen bewirtschaften. Nur diese hätten ein Produzentenbewußtsein, und keinen Schollen-Irrsinn. Bei Kleinbauern versickert die Aufklärung in der Jauchegrube. Ein untrügliches Symptom für gestörtes Bewußtsein ist schon, wenn einer sich nur überlegt, Urlaub am Bauernhof zu machen.
Trotzkist! Völlig falsches Verständnis der Bauernfrage. Unbewältigter
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