Schubumkehr
andere Welt. Frau Nemec sah, wie fremd sie hier waren, sie sah ihre Bewegungen als eigentlichen Ausdruck der Katastrophe, die hier geschehen ist. Womit sie hier befaßt waren, das war kein Material für diese am Stein geschulten Männer – Baumstämme, Holzstrünke, mit Erde verklumptes Geröll und von Eis und Leichenstarre steife Kadaver. Zweiundsechzig Stück totes Wild – Rehe, Hirsche, Kitze – wurden in diesem zerstörten Waldstrich gezählt. Die Tiere waren von niederstürzenden Bäumen erschlagen oder unter dem Geäst festgeklemmt worden oder in Gruben und Krater gestürzt und verendet. Nun mußten die Kadaver, bevor es wieder warm wurde und ihr Verwesungsgestank die ganze Gegend verpestete, geborgen und entsorgt werden.
Es kamen Wolken auf, die grau durch den milchigen Nebeldunst schwammen, und bald regnete es fein und lautlos, ein blaß schillerndes Glänzen, das sich wie ein Überzug über die Landschaft legte. Das Geräusch der Motorsägen setzte aus, die Zurufe der Männer verstummten, und es schien Frau Nemec, als wäre erst jetzt in dieser Stille, zeitverschoben, als Echo und Nachhall, das Krachen und Knirschen hörbar, mit dem sich ihr Haus um die eigene Achse gedreht hatte.
Ihr Mann Karl hatte in seinem Leben zwei Häuser gebaut: eines für das Leben, eines für den Tod. Dieses Wohnhaus neben dem Komprechtser Steinbruch, und auf dem Friedhof des Ortes eine Gruft, die ebenfalls das Aussehen eines kleinen Hauses hatte. Beide ganz aus Granit, aus dem Steinbruch, in dem er gearbeitet hatte. Er mußte eine unermeßliche Liebe zu der Idee der Ewigkeit oder aber eine grenzenlose Leere in seinem endlichen Leben empfunden haben. Jeden einzelnen der Steinquader, aus denen das Wohnhaus zusammengesetzt ist, hatte er mit solcher Geduld, Genauigkeit und Besessenheit händisch bearbeitet, bis sie fugenlos aufeinanderpaßten, so daß das Haus am Ende nicht wie ein Stein um Stein aufgebautes Gebäude wirkte, sondern so, als wäre es aus einem einzigen riesengroßen Block als Ganzes herausgeschlagen und -geschnitten worden, ein gigantisches Wohnmonument, an dem jeder Orkan zerbrechen würde.
Danach hatte sich Karl Nemec an den Bau der Familiengruft gemacht, an der er in jeder freien Stunde bis zu seinem Tod gearbeitet hatte. Wieder ganz aus Quadern zusammengesetzt, hatte er hier noch mehr Ehrgeiz und Phantasie in die Gestaltung der Fassade gesetzt, vom Sockel über die Eckarmierungen mit Steinen von zweierlei Höhen und verschiedener Oberflächenbehandlung, vom Brüstungsgurt bis hin zu den Gesimskonsolen. Alles wurde von Karl Nemec aus ganzen Granitblöcken herausgearbeitet, ohne billige Schichtsteine zu verwenden, ohne Platten, und selbstredend ohne an Backsteinverblendungen zu denken. Auch die blinden Fenster wurden durch Quader gebildet, die von hinten durch einen massiven Block ohne die kleinste Ritze geschlossen und deren oberer Teil durch kräftige Schlußsteine gekrönt wurde.
Jeden Sonntag und jeden Feiertag war Frau Nemec zum Friedhof gegangen, zu ihrem Mann, der unermüdlich in seiner Gruft herumhämmerte. Sie brachte ihm etwas zu essen und redete ein wenig mit den anderen Frauen, die mit frischen Blumen und Grablichtern ihre Toten besuchten.
Wir werden einmal das Jüngste Gericht verschlafen.
Warum ?
Weil wir da drinnen die Posaunen nicht hören werden.
Auch recht. Dann werden wir es halt verschlafen.
Heute noch, wenn sie an ihn dachte, sah sie stets diesen ausgearbeiteten, über einen Stein gekrümmten Rücken vor sich.
Vom Bruder seiner Frau, Franz Zahradnik, der nach Wien gegangen und dort Friedhofbildhauer geworden war, hatte sich Karl Nemec eine Engelskulptur gewünscht, die sein Totenhaus bewachen sollte. Zahradnik hatte versprochen, den gewünschten Engel zu liefern, dann aber seinen Schwager Jahr um Jahr vertröstet, bis dieser das Thema nicht wieder ansprach.
Seinen Namen, ihren, den ihres Sohnes und ihre drei Geburtsdaten hatte Karl Nemec noch selbst in den Stein gemeißelt, dann wurde er in dieses Haus hineingetragen. Bald darauf folgte ihm der Sohn nach, der betrunken mit dem Motorrad verunglückte. Und nun, seit zehn Tagen, war auch Franz Zahradnik hier beigesetzt.
In der Gruft, auf der auch der Name von Frau Nemec stand, wohnten nun drei Männer, und vor dem Haus, in dem Frau Nemec wohnte, standen drei Engel wie vor einem Mausoleum. Der Bruder hatte sie ihr testamentarisch vermacht. Nach seinem Tod hatte er endlich geliefert. Und dann gleich drei. Noch dazu diese drei. Mit einem
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