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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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Ödipus! Könne seiner Mutter nicht verzeihen, daß sie einen Mann geheiratet habe, der fast ihr Sohn sein könnte.
    Roman sank zurück. Es hatte keinen Sinn zu diskutieren. Er hatte eine unglaubliche Geschichte glaubhaft verbürgt, und sie liebten diese Geschichte gegen die Absicht, mit der er sie erzählt hatte. Er erzählte diese Geschichte nach und nach all seinen Freunden, die Reaktionen waren immer die gleichen. Immer wehrloser registrierte er jedesmal aufs neue Begeisterung und Bewunderung, zumindest Anerkennung für seine Mutter. Grotesk, wahnsinnig, diese Eigenschaftswörter verwendete er bald nicht mehr, und so schien es, als ob es nun die Eigenschaftswörter unkonventionell, mutig, selbstbestimmt wären, die er listig aussparte, um sie zu evozieren. Am Ende wußte er selbst nicht mehr, ob es die Wahrheit war, die er erzählte, oder Phantasie, Karikatur oder Legende. Er war gezwungen gewesen, das Bild, das er von seiner Mutter gehabt hatte, zu ändern, und es entstand tatsächlich ein neues: Er begann, zumindest wenn er von ihr erzählte, auf sie stolz zu sein – nur weil sich das, was sie getan hatte und machte, so publikumswirksam erzählen ließ.
15.
    In einem Tal an einem sehr klaren Wasser sah ich einmal einen toten Hirsch. Er war gejagt worden, eine Kugel hatte seine Seite getroffen, und er mochte das frische Wasser gesucht haben, um seinen Schmerz zu kühlen. Er war aber an dem Wasser gestorben. Jetzt lag er so, daß sein Haupt in den Sand gebettet war und seine Vorderfüße in die reine Flut ragten. Ringsum war kein lebendiges Wesen zu sehen. PAUSE.
    Was soll das? Was redet er da?
    Weiß ich nicht. Vielleicht phantasiert er, vielleicht zitiert er irgendwas.
    Aber auf dem Bild ist doch nichts zu sehen.
    Es ist nicht nichts. Da ist etwas. Aber man kann es nicht erkennen. Vielleicht ein Schatten, oder ein Fleck. PLAY.
    Das Tier gefiel mir so, daß ich seine Schönheit bewunderte und mit ihm großes Mitleid empfand. Sein Auge war noch kaum gebrochen.
    Das Bild, das die ganze Zeit über starr festgehalten war, geriet in Bewegung, die Kamera ging zurück, erweiterte die Perspektive, nun war zu erkennen, daß
    Ja, es ist Sand, ein Sandstrand. Der Fleck ist eine Mulde, ein Abdruck im Sand. Hier hatte offenbar irgendwas gelegen.
    Oder irgendwer. Aber sicher kein Hirsch.
    Verstehen Sie das?
    Die Kamera bewegte sich nun langsam um den Körperabdruck im Sand herum. Das Meer schob sich sanft bis an den Rand des Abdrucks heran und zog sich wieder zurück, hinterließ ein Glitzern.
    Wieder die Stimme aus dem Off:
    Es glänzte noch in einem schmerzlichen Glanze und war so wie das Antlitz, das mir fast sprechend erschien, gleichsam ein Vorwurf gegen seine Mörder.
    Nun fuhr die Kamera in einer raschen Bewegung hoch, kurz sind Menschen in Badebekleidung zu sehen, einen Moment lang die Sonne über dem Horizont, eine Explosion von Licht, plötzlich ist das Bild schwarz.
    Was ist jetzt los?
    Ich weiß nicht. Vielleicht hat er
    Der Hirsch, den ich gesehen hatte, schwebte mir immer vor den Augen, Er war ein edler gefallener Held und war ein reines Wesen. STOP.
16.
    Eines Tages standen im Vorgarten des Hauses von Frau Nemec drei Engel.
    Die Sonne, die fahl und kraftlos durch die diesigdunstige Atmosphäre schimmerte, sah wie ein riesiger Vollmond aus, als würde sich die mit Rauhreif überzogene Kraterlandschaft des verwüsteten Waldes oben im Himmel spiegeln.
    Es war dieser Eindruck des Unwirklichen, der bewirkte, daß das Gefühl, nun ganz alleine auf der Welt zu sein, in Frau Nemec nicht wirklich Gewicht bekam. Das war nicht die Welt, nicht die, die sie kannte und die ihr vertraut war, und sie war nicht alleine, sie war zusammen mit der ganzen Gemeinde, in der sie seit jeher gelebt hatte, aus der Welt herausgehoben und in eine andere gestellt worden, in der nichts mehr real schien. All diese Männer da draußen im Wald, oder was von ihm übriggeblieben war – unpassend und wie verloren bewegten sie sich zwischen den kreuz und quer liegenden Stämmen, über die Gräben und Löcher des gefrorenen Bodens hinweg. Frau Nemec kannte sie alle, ehemalige Steinbrucharbeiter, die, nach der Schließung des Steinbruchs, vorübergehende Anstellung beim Forstamt Peugen gefunden hatten, um bei den Aufräumungsarbeiten zu helfen. Sie waren gleichsam vom Gesichtskreis des Küchenfensters von Frau Nemec in den Gesichtskreis ihres Stubenfensters versetzt worden, eine lächerlich geringe Entfernung, für diese aber der Wechsel in eine

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