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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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oder Die Leute begannen, sie sagte, daß man sich anschauen lassen müsse. Richard bezweifelte, daß jetzt noch immer wer dort oben herumstehen würde, und wenn doch, dann sicherlich nicht, weil man auf sie wartete, aber sie drängte, und da im Haus jetzt nichts mehr zu machen war, außer eben alles, willigte er ein. Tatsächlich standen immer noch Dutzende Menschen dichtgedrängt vor dem Gemeindeamt, bis hinüber auf die andere Straßenseite, aber jetzt beachtete kaum einer den heranrollenden Chevrolet oder schaute her, als sie hielten und ausstiegen.
    Anne wurde unsicher, als sie in die Gesichter der Menschen sah, die ihr alle gedrückt, abweisend und aggressiv erschienen. Sie begann Verdacht zu schöpfen. Den falschen. Angestrengt starrte sie auf die Fassade des Gemeindeamts, nur weil alle dorthin schauten. Sie erschrak, als sie Richard fragen hörte, ob das hier eine Demonstration sei. Ihr Wunsch war es jetzt nur noch, nicht aufzufallen, ununterscheidbar zu sein von den anderen, zu verschwinden. Sie hörte Sätze, die sie nicht gleich verstand, sie klangen für sie wie ein Bellen. Schließlich verstand sie: Die Glasfabrik stehe vor dem Konkurs, zwei Drittel der Beschäftigten hätten schon entlassen werden müssen, der Rest sei auf Kurzarbeit gestellt. Und nun sollte auch der Steinbruch wegen Unrentabilität geschlossen werden. In Anbetracht der Bedeutung, die die Hunderten von Arbeitslosen für die ganze Region hätten, seien der Bundeskanzler und der Wirtschaftsminister heute persönlich hierhergekommen, um da drinnen mit dem Bürgermeister und dem Gemeinderat ein soziales Notprogramm zu verhandeln. Deswegen hatten sich alle hier versammelt, das war ihr Spalier gewesen, ihre triumphale Ankunft. Man hatte den Kanzler erwartet.
    Dieses Erlebnis schrieb sie Roman nicht. Auch wenn die Renovierung des Hauses leider nur sehr langsam vonstatten geht, wegen all der anderen Arbeit, die wir haben, und auch, weil wir nach strengsten baubiologischen Gesichtspunkten vorgehen wollen und deshalb sehr viel Zeit aufwenden, um uns richtig zu informieren und so weiter, hat sich das Haus doch schon sehr verändert und ist sehr wohnlich geworden. Ich bin schon so gespannt, was Du sagen wirst, wenn Du
14.
    kommst und es siehst. Nie! Ein Bauernhof in Kom-, wie hieß das? Komprechts. Tiefste Provinz eines ohnehin schon zutiefst provinziellen Landes. Nie hätte sie die Wohnung in Wien verkaufen dürfen, nicht die Wiener Wohnung. Wo sollte er nun hin, wenn er – Aber hatte er nicht immer wieder geschrieben, daß er nicht daran denke. Zurückzukommen? Daß sie aufhören solle, ihn zu drängen. Heimzukommen? Daß es ihm gut gehe und daß er entschlossen sei. Zu bleiben?
    Zum ersten Mal nach all den Jahren empfand er Heimweh, aussichtsloses Heimweh: Entwurzelung. Als wäre er erst jetzt, nach sieben Jahren Wegsein, in der Fremde angekommen. Weil das, was hinter ihm lag, nun nicht mehr hinter ihm lag, sondern fort war, verschwunden, das, was so war, wie es war. Gewesen ist. Seine Mutter ist wahnsinnig geworden, darüber bestand für ihn kein Zweifel. Meschugge, Weixelbaum hatte völlig recht. Alle ihre Freundinnen und Bekannten hatten völlig recht. Sie schreibt in ihren Briefen in aller Ausführlichkeit deren Bedenken und Argumente und dabei fällt ihr nicht auf, daß sie alle recht haben. Menschen, die sie kannten, seit Jahren. Warum hat sie nicht auf sie gehört, warum ist sie nicht wenigstens stutzig geworden? Gerade soweit, daß sie sich eine Hintertür offenhält. Einen Notausgang. Ihre Wohnung. Sie hat doch gut genug verdient, um sich ein Haus am Land leisten zu können, wenn man das schon will, für das Wochenende!!! Aber Bio-Bäuerin werden zu wollen, als Städterin, das konnte er nicht begreifen. Was wird sie jetzt verdienen? Wenn er Geld braucht, wird sie ihm Kartoffeln schicken, oder Dinkel. Im Winter wird sie für ihn Pullover stricken, von der selbstgesponnenen Wolle eigener Schafe. Zum Warmhalten. Wahrscheinlich ist schon in diesem ihrem Tick ihr ganzer Wahnsinn im Keim enthalten gewesen, in ihrem Standardsatz Wer sich warmhält, kommt davon! Diese selbstgebastelten Pullover werden im brasilianischen Hochsommer bei ihm ankommen. Er sah sich dicke grobe primitive Wollsachen bei vierzig Grad Hitze aus Paketen auspacken, wegen denen er noch extra zum Postamt fahren mußte, um sie dort schweißüberströmt abzuholen. Dieses Polaroidfoto, das seine Mutter zeigte vor einigen Schafen, das war nicht seine Mutter. Er betrachtete das

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