Schuechtern
Jahrhundert aufkommende literarische und philosophische Strömung der Empfindsamkeit beziehungsweise des Sentimentalismus wandte. Man denke an die verzweifelten Versuche des Yorick − der Hauptfigur aus Laurence Sternes Romanfragment Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien , das der Bewegung ihren Namen gab − sich selbst und der Welt durch gezielten Gefühlsüberschwang zu beweisen, dass er «keine Maschine» sei. Man betrachte die Akribie und Hingabe, mit welcher der Pädagoge und Schriftsteller Joachim Heinrich Campe sich bemühte, die (inzwischen teilweise wieder in Vergessenheit geratenen) emotionalen Phänomene der ‹Empfindung›, ‹Empfindniß›, ‹Empfindsamkeit›, ‹Empfindlichkeit›, ‹Empfindelei›, ‹Empfindsamlichkeit› sowie nicht zu vergessen der ‹Empfindsamelei› voneinander abzugrenzen.
Wohl nie zuvor wurde so flächendeckend und intensiv über das emotionale Vermögen des Menschen nachgedacht und geschrieben wie in dieser Epoche. Das Ohr fest an den eigenen Brustkorb gepresst, horchte der Sentimentalist sein Innerstes auf Erschütterungen, Regungen und Schwingungen ab und legte in Tagebüchern, Briefen und autobiographischen Schriften Zeugnis darüber ab − und in dem Maß, in dem er seine Empfindungen beobachtete und beschrieb, nahm auch sein Selbstgefühl zu. «Eine […] materiale Voraussetzung der frühbürgerlichen Emotionalisierung als Psychologisierung liefert die Technologie der Schriftlichkeit», schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz. «Sowohl das Lesen wie das Schreiben von Briefen trainieren das bürgerliche Subjekt in der permanenten Selbstbeobachtung, der Wahrnehmung und Reflexion seiner vermeintlichen und damit immer auch produzierten ‹Innenwelt› von Gedanken, Gefühlen oder Erinnerungen, somit in der Herausbildung einer raffinierten Emotionalität des Ichs, die sich auf sich selbst und andere Personen richtet.» Es war also vermutlich nicht zuletzt die zunehmende Literarisierung der bürgerlichen Gesellschaft und die mit ihr einhergehende Begeisterung für das eigene Gefühlsleben, welche unsere moderne Gefühlssemantik, und damit auch unser Scham- und Schüchternheitsempfinden, entscheidend prägte.
Demokratie Die Auffassung, welches Verhalten als schüchtern gilt und wie es zu bewerten sei, ist untrennbar mit der Gesellschaftsform verbunden, vor deren Maßstäben sie entsteht, oder besser gesagt: die sie allererst erzeugt. Die Schüchternheit beziehungsweise das historische Wechselbad, das diese Verhaltensdisposition durchlaufen hat, sagt ebenso viel über die soziale Ordnung aus, die ihr zugrunde liegt, wie über den individuellen Charakter. Dies zeigt sich vielleicht am deutlichsten an einem Begriff, der zwischenzeitlich eine rasante Bedeutungsverschlechterung erfahren hat, der im 18. Jahrhundert aber noch weitgehend synonym mit dem Ausdruck ‹Schüchternheit› verwendet wurde: der ‹Blödigkeit›.
Immanuel Kant bestimmte die Blödigkeit als eine «Art von Schüchternheit und Besorgniß, anderen nicht vortheilhaft in die Augen zu fallen». Für den Literaturwissenschaftler Georg Stanitzek stellt sie eine Mischung verschiedener Emotionen dar, die sich semantisch mehr oder weniger dicht um den Begriff der Angst scharen: Der Blöde ist demzufolge «scheu und schüchtern», «bange […] aus Mißtrauen» und: «er schämt sich». Was die Blödigkeit als Vorform der modernen Schüchternheit nun so interessant macht, ist, dass ihre Entwicklung untrennbar mit der zunehmenden Demokratisierung und Öffnung der westlichen Gesellschaften verbunden ist.
In der vormodernen, ständisch-hierarchisch organisierten Gesellschaft galt Blödigkeit nämlich noch − ähnlich wie das antike Gefühl der aidós oder die christliche Schamhaftigkeit − als allgemein-menschliche Eigenschaft, die aus der beschränkten Stellung des Menschen innerhalb der göttlich verfügten Weltordnung herrührte. Blöde zu sein oder sich blöde zu fühlen, war nichts Besonderes, sondern galt im Gegenteil als lobenswerte Norm: Der Mensch, schrieb Martin Luther, habe eben eine «blöde Natur». Auch die ständische Rangordnung spiegelte diese metaphysische Hierarchie wider: Sie galt als irdische Entsprechung zur ‹großen Seinskette›, jenem Ordnungssystem, in dem jedes Wesen einen ihm zugewiesenen, unabänderlichen Platz hatte.
Allerdings wurde diese «Abbildbarkeit der metaphysischen auf die soziale Hierarchie», wie Georg Stanitzek schreibt, im Lauf des 18.
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